Künstlerische Avantgarden der Vergangenheit und Start-Up-Kultur der Gegenwart – geht das zusammen? Wir folgen der Protagonistin Beta auf eine geheimnisvolle Schnitzeljagd durch Berlin und entdecken dabei eine fast vergessene Kunstform – den Maskentanz.
Berit Glanz hat ein Debüt geschrieben, das wunderbar konstruiert ist und zwei Welten zusammenbringt, die sehr viel mehr gemeinsam haben, als es zunächst scheint. Da ist das Berliner Start-Up, in dem Beta arbeitet mit der typischen Sprache, die diese Leute sprechen. Beta ist eine von ihnen. Sie sagt: „Ich bin Junior-Quality-Assurance-Tester, und im letzten Feedback-Gespräch hinter der Milchglasscheibe wurde mir eine Can-Do-Ausstrahlung bescheinigt.“
Was auch immer das heißen mag.

Beta ist ein Techniknerd, in ihrer Freizeit druckt sie gerne Tiermodelle mit ihrem 3D-Drucker aus und für das Start-Up programmiert sie eine App. Die App heißt „Dawntastic“. Jeden Morgen wird der Nutzer von einem unbekannten User geweckt, man unterhält sich 5 Minuten, bevor man in seinen eigenen langweiligen Alltag startet. Dann verschwindet jede*r wieder im digitalen Nirvana. Beta nutzt die App selbst und trifft den merkwürdigen Nutzer „Toboggan“. Sie unterhalten sich über das Atari-Spiel „Pittfall“, bei dem man ein Männchen durch Treibsand lotsen muss. Wenn der Sand die Figur verschlingt, erscheint ein merkwürdiger Ton, an den sich beide erinnern, auch wenn es das Spiel nicht mehr gibt. Toboggan trägt eine bunte Maske und schickt Beta auf eine Schnitzeljagd durch die Zeit, indem er ihr Geschichten über eine expressionistische Künstlerin schreibt. Er versteckt die Geschichte der Künstlerin im Quellcode von Betas Blog. Ihr Name war Lavinia Schulz, sie hat wirklich gelebt und die Masken gebaut, die der Toboggan trägt. Das ist die andere Ebene des Romans.
Wie in einem Fortsetzungsroman erfährt Beta vom Leben dieser unangepassten Künstlerin und wird immer mehr in Lavinias Welt aus Tanz, Kunst und Armut hineingezogen. Vor knapp hundert Jahren setzte sich die junge Frau ebenfalls mit der großen Frage auseinander, wie viel Anpassung wichtig ist um ein wahrhaftiges Leben zu führen.
Ein Tipp: lest bitte nicht den Artikel bei Wikipedia, die Spoiler sind zu groß! Und das ist eigentlich lustig, denn der Toboggan selbst schickt Beta den Link zu dem Wikipedia-Eintrag über Lavinias Künstlergruppe. Lavinia hat versucht von ihrer Kunst zu leben, Masken entworfen und mit ihnen getanzt. Ihre Geschichte endet tragisch.
Beta fährt ins Museum nach Hamburg und betrachtet die Masken, die nur durch einen Zufall wieder gefunden wurden. Sie besucht den Geburtsort von Lavinia im Spreewald und fängt an, auch ihre eigene Arbeit zu hinterfragen. Wie kann man heute noch ein Zeichen setzen, so wie es die avantgardistischen Künstler*innen taten? Denn auch heute wären diese Zeichen notwendig. Gegen die Durchdigitalisierung der Welt, die Anforderungen des Marktes und des Kapitalismus und einer höher-schneller-weiter-Mentalität der Branche aus der Beta selbst kommt. Und natürlich fragt sie sich, ob sie überhaupt in den Urlaub gefahren ist, wenn sie nicht darüber postet. Wer sind wir ohne Selbstdarstellungen? Und wie haben Menschen früher diesen Drang nach Aufmerksamkeit befriedigt? Betrachtet man Lavinia, ist die Antwort klar. Lavinia war Teil der Künstlergruppe „Der Sturm“, 1918 trat sie nackt auf und provozierte die Kunstwelt mit ihrer Radikalität.
Die Ideen, die Berit Glanz in ihrem Roman so mühelos verwebt, sind grandios und es ist auch ein wenig erschreckend wie nah sich das Leben in der Weimarer Republik und die Start-Up-Szene heute sein können. Beide Erzählstränge sind durch ihre Verknüpfung gelungen. Auch wenn man glaubt, einige Beschreibungen der Selbstvermarktung in der neuen Gründerszene so oder so ähnlich schon einmal gelesen zu haben, eröffnet sich den Leser*innen durch die Figur der Künstlerin Lavinia eine neue Ebene. Trotzdem bleibt die „work hard play hard“-Mentalität der Techszene und ihr ständiger Fokus auf Kosten-Nutzen-Rechnungen und leere Slogans, die die Mitarbeiter*innen motivieren sollen, eine erschreckend leere und sinnlose Angelegenheit. So weit, so erwartbar. Das eigene Leben wird zum Wohl der Firma, des Erfolgs, des Teams hinten angestellt. Da ist Beta mit ihren subversiven Ideen eine Ausnahme. Sie träumt, sie druckt Tierchen aus und sie hat viel Fantasie. Natürlich klaut sie aus einer Laune heraus, die neue Spielerei des Chefs. Sie entlässt den Computerfisch, dem gerade eine Minikamera installiert wurde, in die Spree, damit er einmal etwas richtiges sehen kann und nicht nur das Büroaquarium. Das war mit Abstand meine Lieblingsszene.
Außerdem hat Berit Glanz noch zusätzlich eine Webseite erstellt, auf der man Links und Infos über Lavinia zusammen mit Beta entdecken kann. Das habe ich so bisher noch nicht gesehen und macht richtig Spaß.
Beta versucht einen Ausbruch aus dem System, eine Minirebellion und so werden am Schluss auch die Erzählstränge zusammen geführt. Das ist schön, auch wenn mich die Auflösung um die Identität des Toboggan etwas enttäuscht zurückgelassen haben. Trotzdem bin ich sehr gespannt auf die kommenden Werke der Autorin.
Berit Glanz: Pixeltänzer. Schöffling 2019.
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