Je schneller ich gehe, desto kleiner bin ich

Die kleinste gesellschaftliche Einheit ist nicht der Mensch, es sind zwei Menschen. (Bertold Brecht)

je schneller ich gehe, desto kleiner bin ich cover .jpg.Mathea Martinsen ist fast hundert Jahre alt. Die meiste Zeit in ihrem Leben hat sie mit ihrem Mann verbracht, aber der schrullige Mathematiker Epsilon ist tot. Die schüchterne Mathea ist nicht weniger schrullig als ihr verstorbener Mann und versucht jetzt die wenigen Möglichkeiten, die sie hat, zur vorsichtigen Kontaktaufnahme mit ihrer Umwelt zu nutzen. Da gibt es einen alten Spaziergänger, der sie regelmäßig nach der Uhrzeit fragt, ein Nachbarschaftsfest steht an und ein Bingo-Abend im Senior_innenzentrum. Aber so richtig glücklich kann Mathea ohne Epsilon einfach nicht sein. Epsilon ist so etwas wie Matheas fehlendes Puzzlestück und ohne ihn ist ihr Leben nicht mehr wie vorher.

Jetzt liege ich hier im Bett, bin das Gegenteil von ungeduldig und wünschte, ich könnte den kleinen Rest, der mir noch vom Leben bleibt, aufsparen, bis ich weiß, was ich damit anfangen soll. Aber das geht nicht, dafür müsste ich mich schon einfrieren, und wir haben nur eines dieser kleinen Gefrierfächer über dem Kühlschrank. (S.10)

Epsilon war der beste Freund, den Mathea jemals hatte. Der Mathematiker, dessen einziges Hobby darin bestand, norwegische Statistikjahrbücher zu sammeln, starb am ersten Tag seines Ruhestandes. Kinder haben die beiden nie gehabt und beide machten dafür das gemeinsame Etagenbett verantwortlich. Wenn Mathea sich nicht an ihren Alltag mit Epsilon erinnert, strickt sie Ohrenwärmer, spricht in Reimen und schaut die Nachrichten mit Einar Lunde, den sie nicht sonderlich mag. Außerdem arbeitet sie an einer Erinnerungskiste, in der sie alle Dinge aufbewahrt, die sie als relevant empfindet, denn irgendetwas muss von ihr ja übrig bleiben, wenn sie tot ist.

Das Einzige, was mir einfällt, sind mein Name und mein Hobby. Also schreibe ich in ordentlichen Druckbuchstaben „I C H   H E I S S E  M A T H E A  U N D  B I N  E I N  S A M M L E R“, und als ich meinen Satz lese, fällt mir auf, was herauskommt, wenn man die letzten vier Buchstaben streicht. Ob Epsilon das auch bemerkt hätte? Ich setze meinen Fingerabdruck darunter, wegen der DNA, und als genetisches I-Tüpfelchen niese ich einmal darauf. (S.45)

Regelmäßig scheitert sie daran, ein Marmeladenglas zu öffnen und kauft deswegen regelmäßig ein neues. Manchmal überlegt sie, „Fräulein Uhr“ von der Zeitansage anzurufen und traut sich dann doch nicht, denn das Fräulein könnte am Ende noch eine Konkurrentin auf dem Gebiet der Zeitansage werden. Schließlich sagt Mathea jeden Tag dem Spaziergänger die Uhrzeit – auch wenn sie gar nicht weiß, wie spät es eigentlich ist. Und sie besucht den Friedhof, denn sie muss jetzt damit leben können, bald sterben zu müssen. Sie versucht immer wieder Kontakt zu anderen Menschen herzustellen, aber ihre Versuche sind nicht von Erfolg gekrönt. Sie ist einfach zu schüchtern und weiß nicht mehr, wie man Gespräche mit anderen Menschen beginnen kann. Trotzdem bereitet sie sich akribisch auf die Welt da draußen, außerhalb ihrer Wohnung vor. Denn vielleicht passiert doch noch etwas.

Ich muss in den Laden und Zucker kaufen, für den Fall, dass sich June mehr leihen will. Und ich würde lügen, wenn ich behauptete, dass ich nicht darauf hoffte, unterwegs dem Mann ohne Uhr zu begegnen. Bevor ich gehe, lege ich etwas Parfüm auf, diesmal begnüge ich mich mit einem Spritzer in der Gegend um die Kniekehlen und einigen Tropfen hinter dem Ohr. Und dann sprühe ich kurz in die Luft und gehe einmal durch die Wolke. (S.90)

Das klingt auf den ersten Blick fürchterlich deprimierend, aber das stimmt nicht. Der Text ist witzig, skurril und mit einem tiefen Verständnis für seine Hauptfigur geschrieben, die sich nie besonders wohl unter Menschen gefühlt hat. Warum auch, Mathea hatte ihren Lieblingsmenschen ja gefunden. Weil Mathea niemanden kennen lernt, versucht sie wenigstens auf anderen Gebieten erfolgreich zu sein. Sie will in die Top-Ten der nachgefragtesten Norweger_innen und ruft deswegen mehrfach bei der Auskunft an und fragt mit verstellter Stimme nach ihrer eigenen Nummer. Epsilon hätte dafür Verständnis gehabt, denn er hat auch verstanden, warum Mathea lieber doch nicht den Putzjob haben wollte. Ohne Job konnte sie mehr Zeit mit Epsilon verbringen – zumindest in Gedanken.

Kjersti A. Skomsvold erzählt in ihrem Debüt Je schneller ich gehe, desto kleiner bin ich auf knapp 140 Seiten nicht nur eine Liebes-, sondern auch eine Abschiedsgeschichte. Mathea nimmt nicht nur Abschied von Epsilon, sondern auch von ihrem eigenen Leben. Das ist manchmal traurig zu lesen, aber oft auch einfach nur wunderschön.

Kjersti A. Skomsvold – Je schneller ich gehe, desto kleiner bin ich. Dumont 2013. 142 Seiten.

Aus dem Norwegischen (Jo fertere jeg gar, jo mindre e jeg) übersetzt von Ursel Allenstein.

ISBN: 978-3-8321-6204-7

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