Das Ministerium des äußersten Glücks

Arundhati Roys Roman Das Ministerium des äußersten Glücks ist endlich auch auf Deutsch erhältlich. Nachdem sie für ihr Debüt Der Gott der kleinen Dinge 1997 den Man-Booker-Preis gewann, blieb es zunächst still um die Autorin. Zumindest im Bereich der Belletristik. Sie schrieb stattdessen politische Essays und war als Aktivistin mit unterschiedlichen sozialen und umweltpolitischen Themen beschäftigt. Auch deshalb musste sie immer wieder fürchten, verhaftet zu werden. Ich wollte das neue Buch von Arundhati Roy sofort lesen, denn Der Gott der kleinen Dinge ist eines meiner Lieblingsbücher. Aber ich habe doch ein bisschen länger für die knapp 550 Seiten gebraucht, als ich anfangs gedacht habe…

Es hatte mit der Art und Weise zu tun, wie sie lebte, als wäre sie ihr eigenes Land, ein Land, das keine Visa ausstellte und keine Konsulate zu haben schien. Wohl war, es war nie ein besonders freundliches Land gewesen, selbst in den besten Zeiten nicht. (S.276)

Roy IJede Nacht schläft Anjum zwischen zwei unterschiedlichen Gräbern. Sie rollt sich ihre Schlafmatte aus und schafft sich einen Platz an einem Ort, der für Menschen wie sie, wie geschaffen ist. Anjum sagt über sich selbst, sie sei eine „mehfil, ich bin eine Versammlung von allem und niemand, von allen und nichts“. Anjum ist ein transidentitärer Mensch, aufgewachsen als Junge, geflohen vor der Familie, findet sie irgendwann das Haus der Träume, einem Ort für Hijras.  Mittlerweile lebt sie auf einem Friedhof. In Indien werden intersexuelle Menschen so bezeichnet. Man erkennt sie schon von weitem, die meisten Menschen haben Angst vor ihnen, denn sie sind von den Göttern auserwählt und laut Aberglauben dazu in der Lage, andere zu verfluchen. Anjum hat eine schlimme Vergangenheit hinter sich, aber trotz ihrer traumatischen Erlebnisse schafft sie sich einen Ort, der ohne Grenzen und Gewalt ein friedliches Miteinander möglich macht. Ihr Ministerium des äußersten Glücks, in dem auch schon mal Shakespeare zitiert wird, ist ein Ruhepol in einem Land, das auch von kriegerischen Konflikten nicht verschont bleibt.

Normalität in unserem Teil der Welt ist so etwas wie ein weichgekochtes Ei: Seine langweilige Oberfläche verbirgt zuinnerst einen Dotter von ungeheuerlicher Gewalttätigkeit. Es ist unsere ständige Angst vor dieser Gewalttätigkeit, unsere Erinnerungen an ihre vergangenen Werke und das Grauen vor ihren zukünftigen Manifestationen, die die Regeln niederlegen, wie ein so komplexes und heterogenes Volk, wie wir es sind, weiterhin koexistieren kann – weiterhin zusammenleben, einander tolerieren und von Zeit zu Zeit einander abschlachten kann. Solange die Mitte hält, solange der Dotter nicht ausläuft, ist alles in Ordnung. (S.195)

Der Roman dreht sich nicht nur um Anjum, die den Ort für alle erschaffen kann, die nach ein bisschen Glück suchen. Es gibt den jungen Saddam Hussein, der sich so genannt hat, weil ihn die würdevolle Haltung des Diktators vor seiner Hinrichtung beeindruckt hat. Er findet relativ schnell einen Weg zu Anjum. Aber dann gibt es noch ein anderes Quartett, dessen Beziehungen so komplex und verwirrend sind, wie der Konflikt um die Region Kaschmir. Seit 1947, im Zusammenhang mit der Unabhängigkeit Indiens, schwelt der Konflikt zwischen Pakistan und Indien um die Region Kaschmir, neben territorialen Ansprüchen geht es immer auch um religiöse Differenzen zwischen Hindus und Muslimen.

Im Ministerium des äußersten Glücks geht es neben Anjum um vier Freunde, die alle von den Konflikten innerhalb der Gesellschaft bedroht sind und ihre eigenen Schlüsse aus diesen Bedrohungen ziehen. Zum einen Naga, ein Journalist und Agent, dann der Kashmiri Musa, der sich in den Konflikt um sein Land einmischt, seine Geliebte, die Architektin Tilo und der Ich-Erzähler, der selbst einmal ein Agent gewesen ist. An der Universität haben sie sich in einer Theatergruppe kennen gelernt und auch in der Gegenwart sind ihre Schicksale miteinander verknüpft. Besonders Tilo ist eine Figur, die sehr viel erlebt hat und die ich auch nach Ende des Buches nicht vergessen kann. Sie heiratet Naga und nicht ihren Geliebten Musa, vielleicht weil sie Schutz braucht, aber „ein weniger großzügiger Mensch würde behaupten, weil sie ein Versteck brauchte“ (S.276) Die Wege der Figuren kreuzen sich wieder, spätestens dann, als ein Baby gefunden wird.

Es ist für mich sehr schnell deutlich geworden, dass Roy viele Themen, die sie in ihren politischen Essays aufgreift, auch als Hintergrund in den Roman einfließen lässt. Das erfordert eine Menge Konzentration und hin und wieder mal einen guten Wikipedia-Eintrag (und der Wikipedia-Eintrag zum Kaschmirkonflikt ist das leider nicht). Anders als Der Gott der kleinen Dinge ist Das Ministerium des äußersten Glücks sicherlich nicht so leicht zugänglich. Trotzdem lohnt sich die Auseinandersetzung mit diesem Buch. Die Figuren sind fantastisch, in jedem Nebensatz steckt noch eine Geschichte, die nur in diesem Moment nicht erzählt wird. Manchmal weiß man nicht genau, ob eine Geschichte stimmt. Häufig treffen sich Menschen im Roman und erzählen sich davon, was anderen passiert sein soll oder was ihnen passiert ist. Vieles wirkt im ersten Moment diffus, weil viele Dinge nicht sofort angesprochen werden.

Das Ministerium des äußersten Glücks ist ein bewegender Indienroman, der sehr viel Zeit braucht und auch sehr viel Geduld von seinen Leser*innen fordert. Das hängt auch damit zusammen , dass sich viele Perspektivwechsel und Zusammenhänge zwischen den Figuren und ihren Geschichten oft erst einige Seiten später klären – aber dafür mit einer unglaublichen poetischen und erzählerischen Wucht. Die Konstruktion der Geschichte ist beeindruckend, die sprachliche Gestaltung fantastisch. Roy lässt nicht zu, dass ihre Figuren ermordet werden – sie werden „gefaltet“. Und das ist nur ein Beispiel von vielen poetischen Wendungen, die sich im Text verstecken, die man zunächst überliest und die dann doch nachhaltig im Gedächtnis bleiben.

Wie erzählt man eine zerbrochene Geschichte? Indem man sich langsam in alle verwandelt. Nein. Indem man sich langsam in alles verwandelt. (S.540)

Es sind auch viele Nebenfiguren, die mir im Gedächtnis bleiben werden. Figuren, die ich beim ersten Lesen als lächerlich oder verrückt empfunden habe und Seiten später erfährt man dann, dass diese Figur einen Angriff auf das eigene Dorf überlebt hat, bei dem viele andere hingerichtet wurden. Da kommen Listen, Träume, unvollständige Erzählungen des Ich-Erzählers und Zeugenaussagen zusammen, um ganz langsam ein Bild von Indien in der Gegenwart entstehen zu lassen, das mich sehr beeindruckt hat. Und neben allen schrecklichen und erschütternden Bildern, die Arundhati Roy zeichnet, bleibt am Ende doch noch ein kleiner Ort des Glücks bestehen. Ausgerechnet auf einem Friedhof.

Arundhati Roy – Das Ministerium des äußersten Glücks (The Ministry of Utmost Happiness). Aus dem Englischen von Anette Gruber. S. Fischer Verlag 2017.

560 Seiten.

Ich habe den Roman im Rahmen einer Leserunde bei Lovelybooks gewonnen.

Weitere Rezensionen findet ihr hier:

10 Kommentare

    1. Danke schön und vielen Dank für deinen Besuch :)

  1. Hauke Harder sagt:

    Ein frohes Moin aus Kiel!
    Vielen Dank für die nette Verlinkung zum Leseschatz.
    HErzliche Grüße, Hauke

    1. Moin Hauke, aber gerne. Herzliche Grüße zurück, Eva

  2. Liebe Eva,
    Hut ab zu dieser Rezension! Ich finde es beeindruckend, dass du zu diesem Roman so konkrete Gedanken fassen konntest.
    Ich habe mich im letzten Monat drei Wochen lang mit Roys Buch (allerdings im englischen Original) herumgeschlagen und überlege immer noch, ob ich eine Besprechung dazu schreiben soll oder nicht, aber ich fürchte, dass dabei wahrscheinlich nichts allzu Handfestes rauskäme.
    Eigentlich hatte ich damals schon mit „The God of Small Things“ meine Probleme, aber da ich Arundhati Roy als Person unglaublich interessant finde, musste ich auch ihr neues Werk lesen. Es hat mir – trotz allem – sogar tatsächlich besser gefallen als ihr Debut, die Sprache und Roys Schreibstil sind hier wirklich sehr eindrucksvoll. Was mir allerdings Schwierigkeiten bereitete, waren die wirre Handlung bzw. die ständigen Einschübe und Perspektivwechsel sowie die gefühlt 5298739 Charaktere, über die man eben genau wegen der ständigen Zeitsprünge und Ortswechsel sehr schnell den Überblick verliert. Auch wenn der (doch recht experimentelle) Ansatz interessant und originell ist, hätte ich mir das Ganze vielleicht doch ein kleines bisschen leserfreundlicher gestaltet gewünscht.
    Viele Grüße,
    Elena

    1. Liebe Elena, vielen, vielen Dank für deine lieben Worte. Ich hatte das große Glück den Roman bei Lovelybooks zu gewinnen. Die vielen Diskussionen in der sehr aktiven Leserunde haben nicht nur Spaß gemacht, sondern auch das Verständnis für den Text vertieft. Ich stelle mir vor, dass es auf Englisch auch nicht viel einfacher ist. Es ist herausfordernd, aber auch unglaublich gut. Vielleicht habe ich Die Geschichte der Bienen auch als so klassisch empfunden, weil ich vorher Roy gelesen habe und der Kontrast so stark war. Ich würde mich auch sehr über eine Rezension von dir freuen – denn richtig spannend wird es immer erst, wenn der andere auch den Text kennt. Hattest du eine Lieblingsfigur ? :) Liebe Grüße, Eva

      1. Liebe Eva,
        das ist ja eine tolle Sache mit der Leserunde – ich kann mir gut vorstellen, dass man dadurch noch einmal einen ganz anderen Zugang zum Roman bekommen und einen zusätzlichen Mehrwert daraus ziehen kann. Sowas hätte mir in diesem Fall wahrscheinlich auch sehr geholfen. :) Wie gesagt, hat mich die Fülle an Charakteren ziemlich überfordert, weshalb ich auch kaum engere Verbindungen zu irgendwelchen Figuren aufbauen konnte. Ein Charakter fiel mir dann noch ein, über dessen Auftritte ich mich aber immer ein bisschen gefreut hatte – mir war sein Name mittlerweile schon wieder entfallen, deswegen musste ich jetzt nochmal extra nachschauen: Es war Dr Azad Bhartiya. Hier mochte ich Roys teilweise humorvolle Charakterisierung und den Einschub mit Bhartiyas „News“-Pamphlet sehr gerne. Was die Rezension betrifft, glaube ich momentan aber, ehrlich gesagt, nicht mehr, dass daraus noch etwas wird, denn dafür stecke ich mittlerweile schon wieder viel zu tief in anderen Geschichten. Aber man weiß ja nie. ;)
        Liebe Grüße,
        Elena

      2. Liebe Elena,

        den wirren Doktor mochte ich auch sehr gerne. Vor allen Dingen seine Schriften, das hat ja auch wieder was vom Text im Text – das mochte ich auch sehr. Aber meine absoluten Favoritinnen sind Anjum und Tilo. :)

        Ich kann das sehr gut verstehen, manchmal liegen Bücher nach dem Lesen zu lange herum und dann versucht man eine Rezension zu schreiben, aber man ist schon gedanklich wieder so weit weg. Ich kenne das Problem ;)

        Liebe Grüße,
        Eva

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