„Manchmal schloss ich nachts die Schule auf, ging durch das flache, unbeleuchtete Gebäude, betätigte dabei einen Lichtschalter nach dem anderen und sah, wie das Licht die Dunkelheit über mir aufriss, als wäre ein Schwarm schlummernder Insekten geweckt worden und schwärmte nun gereizt in die Räume aus.“

Der 26-jährige Henrik ist Aushilfslehrer in Nordnorwegen. Eigentlich möchte er Schriftsteller werden, aber das hat bisher nicht geklappt. Seine Eltern sind Lehrer, warum nicht diesen Job ausprobieren? Henrik landet nach dem Studium an einer Oberschule und wird direkt Klassenlehrer. Die Gemeinde, in der er arbeitet, ist winzig. Gerade einmal 300 Menschen leben in dem kleinen Dorf, jede*r kennt jede*n. Das macht es für den Zugezogenen nicht so einfach. Henrik ist sehr unsicher und fühlt sich nur bei seinen Schüler*innen wohl. Er verliebt sich in die 13-jährige Miriam, schläft mit ihr und flüchtet sich danach in seine alte Heimatstadt Kristiansand, der Roman endet damit, dass der Ich-Erzähler Miriam wiedersieht. Ob sie irgendjemandem von ihm erzählt hat, bleibt offen.
Knausgårds Debüt wurde bei Erscheinen 1998 direkt mit dem Norwegischen Kritikerpreis ausgezeichnet, die Zeitung Dagbladet nannte den Roman „das wichtigste Buch der letzten 25 Jahre“. Ziemlich viel Lob für eine Lolita-Story, die konsequent aus der Sicht des Täters erzählt wird und deswegen so fürchterlich unangenehm zu Lesen ist. Dabei kommt man nicht umhin, fast so etwas wie Mitleid für diesen Ich-Erzähler zu entwickeln und das ist so fürchterlich anstrengend an dieser Lektüre. Denn ja, dieser Henrik ist doch ein wirklich schlauer und sympathischer Kerl, oder etwa nicht?
Berit Glanz hat auf Twitter bereits darauf hingewiesen, dass das Erscheinen des Romans in Skandinavien zu großen Debatten geführt hat. Während der Roman in Norwegen vor 20 Jahren direkt ausgezeichnet wurde, gab es zum Erscheinen in Schweden 2015 große Kritik. Ebba Witt-Brattström, Literaturprofessorin an der Uni Helsinki, warf Knausgaard „literarische Pädophilie“ vor, da die erotische Anziehungskraft eines 13-jährigen Kindes literarisch ausgestellt würde, und bezog sich dabei auf einen in Schweden seit längerer Zeit geführten Diskurs um den „Kulturmann“, in dessen Fiktion und Verhalten, weiblich gelesene Personen allein als Figuren des eigenen Begehrens erscheinen. Knausgård reagierte auf diesen Vorwurf im Feuilleton und warf der feministischen Kritik vor, durch übertriebene Moralvorstellungen die Freiheit der Kunst zu beschädigen. Im deutschen Feuilleton scheint weder die Debatte über den Text, noch der Text an sich, problematisierend dargestellt zu werden, mit Ausnahme eines Beitrags in der Zeit (Oktober 2020), in der Adam Soboczynski zumindest darauf hinweist, dass sich seit den zwei Jahrzehnten die zwischen Debüt und Übersetzung liegen, der Blick auf die Literatur und die Künste verändert habe, da sich mittlerweile kein Schriftsteller mehr auf die Autonomie der Kunst und ihre Eigengesetzlichkeit berufen könne. Florian Keisinger schreibt auf fixpoetry dazu:
„Man darf „Aus der Welt“ somit als den ersten literarischen Baustein lesen in einem Verwirrspiel, das Knausgård seither zu einiger Perfektion getrieben hat. Ein Spiel, bei dem den Lesern vorgegaukelt wird, sich aufgrund der vermeintlichen Selbstentblößungen des Autors diesem in seinem innersten Kern anzunähern, wenngleich die Phantasie der Rezipienten in Wahrheit genau dahin gesteuert wird, wo Knausgård sie haben möchte.“
Der Roman besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil wird die Geschichte von Henrik erzählt, der sich an seine minderjährige Schülerin heranmacht, danach erfahren wir die Liebesgeschichte seiner Eltern, vom fabelhaften Beginn bis zum tragischen Scheitern, die Henrik und sein eigenes Scheitern nach wie vor prägen. Die gescheiterte Beziehung der Eltern wird so über die literarische Konstruktion der Erzählung noch einmal im Verhalten des Erzählers gegenüber dem minderjährigen Mädchen gespiegelt. Henriks Vater war ebenfalls Lehrer und Alkoholiker, die Beziehung von Vater und Sohn höchst belastet. Kennt man die Reihe Min kamp hat man das Gefühl, dass sich autobiografische Erzählung und Fiktion hier sehr nahe kommen, denn vieles aus dem Alltag aus Henriks Familie kommt in Variationen auch in der autobiografischen Reihe vor. Herausfordernd wird der Roman an den Stellen, an denen man als Leser*in in eine Zwickmühle gerät und nicht umhin kann, Verständnis für diesen Ich-Erzähler zu entwickeln. Er hat es nicht leicht im Leben, er macht sich viele Gedanken, er ist abgehoben und gleichzeitig auch sympathisch und hat doch, wie man im Laufe der Handlung mit Erschrecken feststellt, seine Grooming-Methoden immer weiter perfektioniert. Henrik überlegt sich, welche Gespräche er mit Miriam führen kann, welche Themen sie ansprechen, wie er ihr gefallen könnte und verliert sich in absurden Fantasien, in denen er ihr unterstellt, sie lege bestimmte Verhaltensweisen nur für ihn an den Tag. Als Lesende erfahren wir jede Gefühlsregung von Henrik, die Gedanken, die er sich zu seinen Kolleg*innen macht, die eigenen Komplexe, die eigene Unvollkommenheit, die eigenen Schamgefühle, die eigene Unfähigkeit und das ständige Auf- und Ab, die den Erzähler begleiten.
Gleichzeitig und das erinnert an die spätere Reihe, kommen bereits in Knausgårds Debüt essayartige Einschübe vor, die gar nichts mit der Handlung zu tun haben und die manchmal gelungen und manchmal nur sehr lang sind. Das sind zum Teil phantastische Elemente, zum Beispiel taucht Jesus in Henriks Zimmer auf und unterhält sich mit ihm über seine Unfähigkeit an ihn zu glauben oder aber die ganze Szenerie kippt in eine Art Traumwelt, in der Henrik verheiratet ist und auf einer phantastischen Bohrinsel arbeitet, die irgendwo in Richtung Himmel führt oder aber Dante und Kant tauchen auf. Das habe ich sehr gern gelesen.
Der Roman ist mit über 900 Seiten keine Geschichte für zwischendurch. Vieles wirkt sehr in die Länge gezogen und die Ambivalenz gegenüber der Hauptfigur, die sich vielleicht auch vieles zu einfach macht, blieb bei mir während des Lesens ständig im Hinterkopf. Gerade deswegen hat mir der Roman auch gefallen, denn die eingenommene Perspektive ist keinesfalls einfach und das Ende, bei dem Miriam und Henrik wieder aufeinandertreffen, ist vielleicht nur der Auftakt für eine noch größere Katastrophe. Im Interview mit dem WDR sagt Knausgård selbst über sein Debüt:
„Dieses Buch ist für mich Ausdruck literarischer Freiheit. Und danach strebe ich bis heute. Nichts planen, nicht nachdenken, einfach schreiben und dem folgen, was da entsteht. Seit meinem Debüt habe ich gewusst, dass es einen Ort für mich und mein Schreiben gibt. Für den Leser ist mein erstes Buch dagegen vielleicht einfach zu viel des Guten.“
Aus der Welt. Übersetzt von Paul Berf. Luchterhand 2020.