Literarisches Jahreshighlight: In ihrem zweiten Roman erzählt Shida Bazyar kompromisslos und voller Wucht von drei Freundinnen und den zerstörerischen Folgen des Alltagsrassismus in Deutschland.

Hani, Kashi und Saya sind zusammen am Rand einer Kleinstadt aufgewachsen. Weder der Name der Stadt noch die Herkunftsländer der Protagonist*innen spielen eine Rolle, wie die Ich-Erzählerin Kasi feststellt, denn Frauen wie sie werden immer nach ihrer ursprünglichen Heimat gefragt. Da können die drei Freund*innen auch exzellentes Deutsch sprechen, die biodeutschen Fragesteller*innen interessiert das kaum. Es geht viel mehr darum, eine Schublade aufzumachen und Menschen festzulegen – ein Prozess, gegen den die Freund*innen sich immer schon gewehrt haben und der den Zusammenhalt des Trios nur verstärkt hat. Gemeinsam gegen den Rest der Welt. Die drei haben sich eine lange Zeit nicht gesehen und seit ihrer Jugend nur noch selten Kontakt. Eine gemeinsame Freundin aus der alten Siedlung heiratet, deswegen kehren alle drei zurück. Die Verbindung die noch nach all den Jahren besteht, ist so traurig, wie eindrücklich: sie hatten schon immer unterschiedliche Wege mit dem Alltagsrassismus, der ihnen begegnet, umzugehen.
„Uns gibt es in dieser Welt nicht. Hier sind wir weder Deutsche noch Flüchtlinge, wir sprechen nicht die Nachrichten und wir sind nicht die Expertinnen. Wir sind irgendein Joker, von dem sie noch nicht wissen, ob sie ihn einmal zu irgendetwas gebrauchen können.“
Drei Kameradinnen
Doch der Zeitpunkt des gemeinsamen Treffens fällt in die ersten Tage des NSU-Prozesses. Weder die Namen der Angeklagten noch die genauen Tatvorwürfe werden genannt. Sie sind eher ein weißes Rauschen im Hintergrund, das die vorsichtigen Begegnungen begleitet. Die Erzählerin Kasi weiß genau, was sie uns, den Leser*innen, hinwerfen kann und welche Informationen sie verschweigt. Sie wendet sich an uns, immer dann, wenn wir anfangen ein unhinterfragtes Vorurteil über die drei Freundinnen für bare Münze nehmen, immer dann, wenn wir es uns einen Tick zu einfach machen wollen. Das ist ein unglaublich verführerischer Reflex, denn die Geschichte beginnt nicht mit der Hochzeit und nicht mit dem ersten Schultag der Freundinnen. Sie beginnt mitten drin oder am Schluss: ein Zeitungsartikel mit dem Titel „Jahrhundertbrand in der Bornemannstraße“ verweist auf Sayas Mittäterschaft bei einem islamistischen Anschlag, der mehrere Menschen das Leben gekostet hat.
Die Konstruktion des Romans ist deshalb so einfach, wie überzeugend. Wir wissen von Anfang an, das etwas schlimmes geschehen sein muss, denn wenige Seiten später erfahren wir von Kasi, dass Saya wegen des Anschlags „im Knast“ sitzt. Weil Kasi sich eigentlich auf die Hochzeit gefreut hat und von der Nachricht absolut überfordert ist, setzt sie sich an den Schreibtisch und beginnt die gemeinsame Geschichte aufzuschreiben – in einer Nacht bis zum Morgengrauen. Kasi präsentiert uns ein Kaleidoskop von unterschiedlichen Erfahrungen der drei Freund*innen über Jahre hinweg, die von Mikroaggressionen bis hin zu offener Diskriminierung reichen. Der Auftrag an die Leser*innen: zuhören und nicht vorschnell urteilen. Das fällt gar nicht so leicht. Als ziemlich deutsche weiße Kartoffel, die sich nie mit den geschilderten Problemen auseinandersetzen musste, fühle ich mich manchmal beim Lesen ertappt.
„(…) man kann euch nun mal nur halb vertrauen; eigentlich will man es und tut es meistens auch. Aber dann weiß man trotzdem nicht, ob ihr von den Morden an nicht-weißen Personen eigentlich schon gehört habt, die uns nächtelang wach hielten und unsere Läden schließen ließen. Ob ihr eigentlich von den niedergebrannten Häusern wisst, wegen denen wir uns damals Walkie-Talkies zulegten und heute in jeder neuen Wohnung Rauchmelder anbringen. Oder ob ihr bei all diesen Vorfällen gerade im Urlaub wart. Am Mittelmeer vielleicht (…)“
Drei Kameradinnen
Bazyars Roman ist nicht nur klug komponiert, sie spielt auch mit sämtlichen erzählerischen Mitteln, die zur Verfügung stehen. Die direkte Ansprache der Leser*innen ist ein wirkungsvoller Kniff, die generelle Unzuverlässigkeit der Erzählerin, die mich von Kapitel zu Kapitel das gerade neu zusammengesetztes Bild der drei Protagonist*innen erneut hinterfragen lässt, zeugt ebenfalls von der hohen Kunst der Autorin ein Porträt der Freund*innen zu entwerfen, das mich bedrückt und sogar wütend macht. Und das beginnt schon bei der Ankunft von Kasi in der Stadt: im Flugzeug wird sie von einem älteren deutschen Herrn auf Englisch angesprochen. Der Subtext ist, dass jemand wie sie doch kein Deutsch sprechen könne. Das macht Kasi wütend, während sie sich gleichzeitig für eine schwangere Mitpassagierin mit Kopftuch schämt, die im Flugzeug auf dem vermeintlich falschen Platz sitzt und so den Verkehr aufhält. Es wird sich herausstellen, dass der Platz gar nicht der falsche ist und die Frau eigentlich kein Kopftuch trägt, sondern es nur umgeworfen hat, damit ihre Haare nicht nass werden – doch sämtliche Vorurteile der Menschen im Flugzeug und gleichzeitig auch der Leser*innen werden einmal geschickt durchexerziert.
Während also auf der einen Seite die Ausschlussmechanismen der deutschen Mehrheitsgesellschaft thematisiert werden, zeigen sich in den Kindheitserinnerungen von Kasi, Bilder einer heilen Welt, in der sich die Mädchen umeinander kümmern. Kasi erzählt von Hani, die in der Siedlung anfing den Müll aufzusammeln und ein heruntergekommenes abgewracktes Auto zu putzen, damit die Gegend nicht so schäbig aussah. Dafür erfand sie einen alten Mann, der im Krankenhaus lag und sich deshalb nicht mehr um das Auto kümmern konnte – und alle Kinder der Siedlung, von der Geschichte überzeugt, halfen mit. Diese Erfahrungen bilden auch das starke Fundament der Freundschaft der drei Frauen und werden immer wieder lose neben die Erfahrungen der drei Kameradinnen im Laufe ihres Erwachsenenlebens gestellt.
Kasi hat einen Masterabschluss mit Bestnoten, findet aber keine Stelle und muss sich deshalb mit unbefriedigenden und deprimierenden Besuchen in der Agentur für Arbeit herumschlagen, während sie gleichzeitig eine Trennung verarbeiten muss. Ohne ihren deutschen weißen Freund, fühlt sie sich noch unsichtbarer in der Gesellschaft. Als er ihr noch zur Hilfe kommen will und ein Jobangebot in Bayern („Migrationshintergrund ausdrücklich erwünscht“) aus der Tasche zaubert, dass Kasi schon bei der Arbeitsagentur vor die Nase gesetzt bekommen hat, ist sie endgültig davon überzeugt, dass sie und der Ex in verschiedenen Welten leben. Saya gibt Workshops für Schulen und ist in der Bildungsarbeit aktiv und war schon immer bereit dafür, sich für das Wahre, Schöne und Gute einzusetzen. Sie ist die Idealistin – und soll doch am Ende einen Terroranschlag verübt haben? Wie kann das zusammengehören? Hani hingegen ist strebsam, zuverlässig und vor allen Dingen darum bemüht, nicht negativ aufzufallen. Sie macht sich lieber kleiner als sie ist und arbeitet als Büroangestellte in einer Organisation für den Tierschutz ohne großartige politische Reden schwingen zu wollen, auch das ist eine Überlebensstrategie. Das sie letztendlich auf ihrer Stelle gnadenlos ausgebeutet wird, nimmt sie so hin.
Das Scheitern der Ermittlungsbehörden im NSU-Mordkomplex und die dadurch entstandene Gewissheit, dass niemand die drei Kameradinnen vor rassistischer Gewalt schützen kann oder will, steht als unausgesprochener riesiger pinker Elefant im Raum. Bazyar fordert uns auf, genau hinzuschauen, festgelegte Bilder in Frage zu stellen und zeigt am Schluss, dass die Erzählerin selbst unzuverlässig ist. Es sind die blinden Flecken, die wir alle haben, auf die uns die Erzählerin hinweist, die Erzählung ist aber auch ein großer Spiegel, den die deutsche Mehrheitsgesellschaft vorgehalten bekommt, in dem die Perspektive sich ein bisschen verschieben kann und soll. Kurzum, große Erzählkunst.
Ich habe den Roman als Rezensionsexemplar gewonnen und bedanke mich sehr herzlich beim Verlag!
Weitere Rezensionen findet ihr hier:
1 Kommentar