
Paola ist 16 Jahre alt und hat es gerade nicht leicht. Sie ist übergewichtig und ihre Mutter nervt sie mit Diäten. In der Schule wird Paola gemobbt und ihre Mitschüler haben ein unschmeichelhaftes Video von ihr vor dem Snackautomaten der Schule im Internet hochgeladen, so wird ihr Außenseiterstatus weiter zementiert. Eine beste Freundin hat sie nicht, deswegen hat sie sich Carmen ausgedacht, der sie alles erzählen kann. Neben diesen Schwierigkeiten, lebt Paola aber ein absolut privilegiertes Leben in einer Villa am Stadtrand, die von ihr ironisch „Oase des Friedens“ genannt wird. Hier lebt sie mit ihrem behinderten Bruder Riccardo, der im Zentrum der familiären Aufmerksamkeit steht, ihrer (über-)fürsorglichen Mutter, ihrem stets arbeitenden Vater und ihrer Oma, ein relativ sorgenfreies Leben. Zumindest auf den ersten Blick.
„Ich hasse dieses Video. Aber die Wahrheit ist, dass ich einen Haufen Sachen hasse, auch solche, die alle anderen mögen. Ich bin eine professionelle Hasserin.“
Dieses ganze Leben
Das stimmt natürlich nur zur Hälfte, Paola ist eine sehr empfindsame Figur, die sich im Laufe der Handlung nicht mehr von den Erwachsenen veralbern lässt, aber dazu später mehr. Für Paola gibt es einen Lichtblick im dunklen Alltag und das ist Antonio. Antonio lebt in der Margaritensiedlung, die von Paolas Großvater entworfen und gebaut wurde, Stichwort sozialer Wohnungsbau. Eigentlich darf sich Paola dort nicht aufhalten. Aber Antonio ist ein besonderer Mensch, denn er sagt, was er denkt und das imponiert Paola, die für sich selbst entschieden hat, immer die Wahrheit zu sagen. Anders als die Erwachsenen, die ohnehin recht anstrengend sind. Während ihr Vater sich mehr um die Arbeit, als um die Familie kümmert, ist ihre Mutter die „Meisterin des Unter-den-Teppich-Kehrens“. Paola führt erbitterte Kämpfe mit ihrer Mutter, in denen es hauptsächlich um die „Fettfrage“ geht. Sie hasst ihren Körper und aus Trotz und Wut verschwindet sie häufig mit Rici im Park, um Chips zu essen und auf alle Diäten zu pfeifen.
„Ich bin hässlich, das ist die Wahrheit. Die schlichte, einfache, unzweifelhafte Wahrheit. Natürlich habe ich auch gute Seiten: Zum Beispiel bin ich nicht feige, ich suche keine Ausflüchte, ich kann der Wirklichkeit ins Auge sehen. Und die Wirklichkeit ist, dass ich hässlich bin. Ein Scheusal. Einfach grauenhaft. Und zwar absolut gesehen, nicht bloß im Vergleich zu Mädchen, die ich kenne.“
Dieses ganze Leben
Rici ist für Paolo nur „der Ompf“, sie kann ihn verstehen, auch wenn es andere Menschen nicht können. Für Paola ist er oft die einzige Bezugsperson, denn die Geschwister sind wirklich nicht die Vorzeigekinder, die sich ihre Eltern vermeintlich gewünscht haben. Zumindest fühlt sich Paolo so. Das schweißt sie mit ihrem Bruder zusammen.
Zur Darstellung von Riccardo hat Alexandra von Readpackblog einen sehr lesenswerten Beitrag geschrieben.
Paola gelingt es im Laufe der Handlung sich selbst und auch ihren Bruder besser zu akzeptieren und dabei hilft ihr auch Antonio. Nicht so, dass er als Held auf dem weißen Pferd angeritten käme um Paola von ihren Selbstzweifeln zu befreien, sondern einfach dadurch, dass die Themen Übergewicht und Mobbing für Paola in den Hintergrund rücken und keine wichtige Rolle mehr spielen. Außerdem gelingt es ihr auch, ihren Bruder etwas mehr loszulassen.
Und das liegt an einer weiteren Ebene, die Raffaela Romagnolo sehr überraschend in die Erzählung eingebunden hat. Als klar wird, dass Paolas Familie in einen handfesten Umweltskandal verwickelt ist, der mit Sicherheit überhaupt erst den Reichtum der Familie begründet hat, entdecken auch Paolas Oma und ihre Mutter, dass es niemandem hilft, (Familien-) Geheimnisse weiter zu verschweigen und dass es wichtig ist, sich der Wahrheit zu stellen.
„Dieses ganze Leben“ ist ein Coming-of-Age-Roman, der viele gelungene Momente hat. Highlights waren die Liebesgeschichte der Oma und die Beziehung der Geschwister, genau wie die Figur Antonio, die Paola hilft, sich selbst klarer und nicht mehr so kritisch zu sehen. Während im Mittelteil die Geschichte der Margaritensiedlung hinter Paolas Problemen mit sich selbst zurückbleibt, und in einen Plauderton Paolas abdriftet, der zwar dem Alter der Hauptfigur angemessen ist, aber für mich etwas den Fokus auf die Entwicklung der Handlung verloren hat, dreht sich die Geschichte tatsächlich noch einmal zum Schluss. Das offene Ende hat mir sehr gefallen.
Trotzdem bleiben kleine Fragezeichen, die zum Teil auch an der Übersetzung liegen. Warum wird das N-Wort verwendet, wenn es um Beleidigungen geht? Warum redet Paola so hochgestochen und verwendet, wie alle 16-jährigen dieser Welt, Begriffe wie „lakonisch“?
Aber auch über den sprachlichen Zusammenhang hinaus, stellen sich inhaltliche Fragen, die mich zumindest haben stutzen lassen. Neben vielen gelungenen Aspekten in der Darstellung von Rici bleiben auch Fragen offen. Warum wird das Thema Behinderung in diesem Text mit einem Schuldkomplex der Mutter verknüpft? Ich verweise hier noch einmal auf den sehr lesenswerten Beitrag von Alexandra, den ich oben verlinkt habe.
Ich habe mich auch gefragt, warum die einzige Figur, die Paola wirklich bedroht und eine Gefahr für sie darstellt, tatsächlich jemand aus der Margaritensiedlung sein muss? Neben Antonio, dem Ritter/Retter ohne Pferd und seinem schachspielenden Bruder, sowie der freundlichen und aufopferungsvollen Haushaltshilfe Nina aus Rumänien, taucht also die „Unterschicht“ nur als wütende Gefahr für die sympathische Hauptfigur Paoloa auf, einer bedrohlichen Figur zudem, die nicht differenzieren kann, wer nun Schuld an diesem Skandal ist. Der Großvater oder die 16-jährige Enkelin. Das ist zumindest schade.
Ich habe den Roman im Rahmen einer Leserunde von Lovelybooks gewonnen.