Ellis Eltern trennen sich als sie in der Grundschule ist, sie kehrt mit ihrer Mutter aus Italien nach Deutschland zurück. Alles ist anders, die Sprache, die Menschen und ihre geliebten Großeltern sieht sie nur in den Ferien. Halt gibt ihr schließlich die Freundschaft zu Grace. Grace heißt eigentlich Greta, aber sie wollte schon immer anders heißen. Ellis bewundert sie für diese Leichtigkeit über Zugehörigkeit und Identität zu entscheiden, für sie ist es nie einfach. Umso schwerer wiegt die Enttäuschung, als sich Grace eines Tages von Ellis abwendet und beginnt, sie gemeinsam mit den anderen Kindern zu mobben.
Erst Jahre später nähern sich die beiden wieder einander an, es ist ein zufälliges Treffen, das dafür sorgt, dass die ehemaligen Freundinnen wieder miteinander sprechen. Ellis lädt Grace ein, sie zu den Großeltern nach Italien zu begleiten. Aber dort tauchen alte Konflikte wieder auf. Und die Frage nach Zugehörigkeit stellt sich erneut, als beide Freund*innen für deutsche Tourist*innen gehalten werden.
Die Geschichte wird in Rückblenden erzählt. Parallel liegen der Besuch bei den Großeltern und die Erfahrungen der Gdundschulzeit für die Ich-Erzählerin nebeneinander. Die Geschichte funktioniert durch Auslassungen, Andeutungen, kürzeste Kapitel, in denen so etwas wie eine Momentaufnahme der Freundschaft gezeigt wird, die für Ellis vielleicht schon immer mehr war. So flirrt der Text vor sich hin, vielleicht weil Ellis selbst nicht weiß, ob sie Grace bewundert oder begehrt oder eifersüchtig ist. Ein gelungenes Debüt!
Kryonik als science-fictionartiges Heilsversprechen: Wenn Menschen sich einfrieren lassen, sind damit viele Erwartungen verbunden. Ein Auftauen in der Zukunft und damit in einer besseren Welt ist der Wunsch, aber einer muss den Laden eben auch am Laufen halten. In Henrik Otrembas zweiten Roman ist dies der mysteriöse Kachelbad, dessen Motive lange im Dunklen liegen.
Die Hoffnung auf das ewige Leben liegt in einer Lagerhalle. Hier hat Kachelbad mit seinem Gehilfen Lee Won-Hong mit Stickstoff gefüllte Tanks aufgebaut. Pro Tank gibt es Platz für bis zu sechs Tote, von den beiden Geschäftspartnern auch schon einmal „kalte Mieter“ genannt, die durch die technischen Mittel der Kryonik am Leben gehalten werden sollen. Ihre Frostigkeit und das Frostschutzmittel in ihren Adern soll sie vor dem körperlichen Verfall bewahren und ihre Zellen gesund erhalten, sodass in der Zukunft einmal findige Wissenschaftler für einen gelungenen Auftauprozess und damit fast so etwas wie das ewige Leben sorgen können. Die Eingefrorenen könnten also, so der Plan, einmal zu den letzten Überlebenden der menschlichen Spezies gehören. Dafür blättern sie eine Menge Geld hin und sind in ihrem eingefrorenen Zustand ganz auf die Arbeit von Kachelbad und Lee angewiesen.
Schockierend ist, dass es dieses Verfahren tatsächlich gibt. Seit 1967 versuchen Menschen dem Tod ein Schnippchen zu schlagen und sich in der sogenannten Kryokonservierung für die Nachwelt einzufrieren. Der erste der dem Prozess vertraute, war James Bedford, ein Psychologieprofessor. In Russland und in den USA liegen über 400 Menschen in diesem Kälteschlaf, in den sich die Menschen nach dem klinischen Tod versetzen lassen. In Deutschland ist die Kryonik verboten, da es keinen wissenschaftlichen Beleg für das Verfahren gibt und die Anhänger*innen der Methode sich im Bereich des Science-Fiction bewegen. Trotzdem gibt es in Russland einen kommerziellen Anbieter und in den USA zwei Non-Profit-Organisationen in Detroit und Arizona, die den Menschen Hoffnung auf ein zweites Leben machen. Kachelbad fällt auch eher in den Bereich der Non-Profit-Unternehmer, denn sein Job ist es, für die Ruhe der Eingefrorenen zu sorgen.
„ich sehe, dass sich zeit meines Lebens nichts getan hat, nichts zum Guten gewandt hat, dass die Menschen wider besseres Wissen, trotz der Erfahrung, trotz der ganzen verdammten Geschichte, weiter und weiter auf den Abgrund zurast. (…)Es müsste etwas Drastisches passieren, dann vielleicht gäbe es noch eine Chance. Aber so? Gib es doch zu, Kachelbad, wir sind verloren.“
Anders als das Thema vermuten lässt, erzählt Henrik Otremba, bildender Künstler und Frontmann der münsteraner Band Messer, nämlich ausdrücklich keine Science-Fiction-Geschichte. Kachelbad ist mit sehr diesseitigen Problemen befasst: woher bekommt man einen Totenschein? Wie kann man das Unternehmen (Exit US) anmelden? Wie gewinnt man Kund*innen? Wer kann Stickstoff besorgen und für die Ruhe der Mieter sorgen, wer kann helfen, den Laster, der den famosen Aufdruck „Otremba Funeral Service“ trägt auch wirklich an sein Ziel zu steuern? Im ersten Teil erzählt also die Rettungsassistentin Rosary von ihrem Zusammentreffen mit Kachelbad, der ihr ein lukratives Jobangebot macht. Doch irgendwann wird ihr das Unternehmen unheimlich. Im Anschluss an Rosarys Ausstieg und damit des bildlichen Verlusts der Hoffnung oder des Rosenkranzes, werden die „kalten Mieter“ vorgestellt, die ihre Leben bis ins Jahr 1987 erzählen und auf recht ausschweifend erzählten Wegen darstellen, warum sie sich für das Einfrieren entschieden haben. Das sind der Schriftsteller Shabbatz Krekow, die auf Gomera geborene Künstlerin Amelia Morales, die schon immer in den „Nebel“ gehen wollte, die psychisch angeschlagene Charlotte Weisenberg, eine ukrainische Wissenschaftlerin und ein Auftragskiller. So merkwürdig Kachelbad auch ist, er konnte alle Menschen von sich und seinem Verfahren überzeugen. Doch warum legen Menschen überhaupt ihre Hoffnung auf so ein wissenschaftlich hoch umstrittenes Projekt? Im Roman wird das mit einem surrealen Kniff erzählt. Kachelbad und viele seiner Mieter*innen gehören zu den Unsichtbaren. Eine Eigenschaft, die viele Außenseiter ohnehin schon haben, die sich aber, wie Kachelbad eindrücklich demonstriert, auch antrainieren lässt. Für einen Serienkiller eine Recht hilfreiche Eigenschaft, die aber ihren Tribut fordert. Auch die meisten anderen Phänomene, die auftreten scheinen zunächst undenkbar, später im Roman aber absolut nachvollziehbar.
In der Netflix Dokumentation „Eingefroren – Hoffnung auf ein zweites Leben“ (2020), begleitet der Dokumentarfilmer Pailin Wedel einen thailändischen Wissenschaftler, der seine unheilbar kranke Tochter Einz mittels Kryonik einfrieren lässt. Sie ist mit gerade einmal zwei Jahren die jüngste Person, bei der das Cryo-Preservation-Verfahren angewendet wird. Ihr Kopf und ihr Gehirn lagern im Tank einer Firma in Arizona, bei Kachelbad sind es die restlichen Gelder der Verstorbenen, die das Verfahren finanzieren, hier ist es das Geld der Familie. Die Dokumentation greift den Zwiespalt der Familienmitglieder auf. Während der Vater an die Wunder der Technik glaubt und davon ausgeht, dass Einz in der Zukunft auf kompetente Mediziner*innen treffen wird, die ihr helfen werden, stehen Mutter und großer Bruder vor dem Problem, dass sie sich ernsthaft Sorgen darüber machen, dass Einz in einer Welt aufwacht, in der es sie nicht mehr geben wird. Kann das verantwortungsvoll sein? Und funktioniert das Prozedere überhaupt? Während der Vater keine Fragen zulässt, stehen Mutter und Sohn vor dem psychologischen Problem, dass sie nie in die Verarbeitungsphase des Todes von Einz kommen, da sie nie richtig von Einz Abschied nehmen können. denn laut Glauben der Kryoniker und des Vaters ist das Mädchen ja nicht tot, sondern wartet auf ihre zweite Chance. Kein Wunder, dass der große Bruder Matrix seine Erfüllung später im Buddhismus findet.
Für Kachelbad ist es eben nicht der Profit, der ihn antreibt und auch nicht die fehlende Auseinandersetzung mit der Realität. Hoffnung findet er aber auch nicht im Glauben, sondern auf der Straße, wenn er mit seinen Tanks durch die Gegend zieht, solange er kann. Es ist die Liebe und der Glaube an das ewige Glück, die ihn eben nicht aufgeben lassen. Im letzten seiner Tanks liegt David, den Kachelbad versucht zu retten und dem er eine schöne Zukunft versprochen hat. Eine ohne Drogen und ohne Aids, in der sie gemeinsam am Strand sitzen können und einfach glücklich sind. Dafür nimmt Kachelbad unglaublich viel auf sich. Interessant ist auch, dass alle Menschen, die man in diesem wilden Roman kennen lernt, besessen davon sind zu schreiben. Sie führen Tagebuch, sie halten ihre Ideen fest, sie besprechen Tonbänder. Auch Kachelbad schreibt an seinen Memoiren bis zum Schluss. Die Erzählung hat unglaublich düstere Momente und ist gleichzeitig auch sehr hoffnungslos und dabei auch ein bisschen schön. Thematisch spannt Otremba einen riesen Bogen. Eigentlich erzählt er mit der ganzen sciencefictionstory eine Liebesgeschichte, aber das bleibt bis zum letzten Kapitel ein großes Geheimnis.
Literarisches Jahreshighlight: In ihrem zweiten Roman erzählt Shida Bazyar kompromisslos und voller Wucht von drei Freundinnen und den zerstörerischen Folgen des Alltagsrassismus in Deutschland.
Hani, Kashi und Saya sind zusammen am Rand einer Kleinstadt aufgewachsen. Weder der Name der Stadt noch die Herkunftsländer der Protagonist*innen spielen eine Rolle, wie die Ich-Erzählerin Kasi feststellt, denn Frauen wie sie werden immer nach ihrer ursprünglichen Heimat gefragt. Da können die drei Freund*innen auch exzellentes Deutsch sprechen, die biodeutschen Fragesteller*innen interessiert das kaum. Es geht viel mehr darum, eine Schublade aufzumachen und Menschen festzulegen – ein Prozess, gegen den die Freund*innen sich immer schon gewehrt haben und der den Zusammenhalt des Trios nur verstärkt hat. Gemeinsam gegen den Rest der Welt. Die drei haben sich eine lange Zeit nicht gesehen und seit ihrer Jugend nur noch selten Kontakt. Eine gemeinsame Freundin aus der alten Siedlung heiratet, deswegen kehren alle drei zurück. Die Verbindung die noch nach all den Jahren besteht, ist so traurig, wie eindrücklich: sie hatten schon immer unterschiedliche Wege mit dem Alltagsrassismus, der ihnen begegnet, umzugehen.
„Uns gibt es in dieser Welt nicht. Hier sind wir weder Deutsche noch Flüchtlinge, wir sprechen nicht die Nachrichten und wir sind nicht die Expertinnen. Wir sind irgendein Joker, von dem sie noch nicht wissen, ob sie ihn einmal zu irgendetwas gebrauchen können.“
Drei Kameradinnen
Doch der Zeitpunkt des gemeinsamen Treffens fällt in die ersten Tage des NSU-Prozesses. Weder die Namen der Angeklagten noch die genauen Tatvorwürfe werden genannt. Sie sind eher ein weißes Rauschen im Hintergrund, das die vorsichtigen Begegnungen begleitet. Die Erzählerin Kasi weiß genau, was sie uns, den Leser*innen, hinwerfen kann und welche Informationen sie verschweigt. Sie wendet sich an uns, immer dann, wenn wir anfangen ein unhinterfragtes Vorurteil über die drei Freundinnen für bare Münze nehmen, immer dann, wenn wir es uns einen Tick zu einfach machen wollen. Das ist ein unglaublich verführerischer Reflex, denn die Geschichte beginnt nicht mit der Hochzeit und nicht mit dem ersten Schultag der Freundinnen. Sie beginnt mitten drin oder am Schluss: ein Zeitungsartikel mit dem Titel „Jahrhundertbrand in der Bornemannstraße“ verweist auf Sayas Mittäterschaft bei einem islamistischen Anschlag, der mehrere Menschen das Leben gekostet hat.
Die Konstruktion des Romans ist deshalb so einfach, wie überzeugend. Wir wissen von Anfang an, das etwas schlimmes geschehen sein muss, denn wenige Seiten später erfahren wir von Kasi, dass Saya wegen des Anschlags „im Knast“ sitzt. Weil Kasi sich eigentlich auf die Hochzeit gefreut hat und von der Nachricht absolut überfordert ist, setzt sie sich an den Schreibtisch und beginnt die gemeinsame Geschichte aufzuschreiben – in einer Nacht bis zum Morgengrauen. Kasi präsentiert uns ein Kaleidoskop von unterschiedlichen Erfahrungen der drei Freund*innen über Jahre hinweg, die von Mikroaggressionen bis hin zu offener Diskriminierung reichen. Der Auftrag an die Leser*innen: zuhören und nicht vorschnell urteilen. Das fällt gar nicht so leicht. Als ziemlich deutsche weiße Kartoffel, die sich nie mit den geschilderten Problemen auseinandersetzen musste, fühle ich mich manchmal beim Lesen ertappt.
„(…) man kann euch nun mal nur halb vertrauen; eigentlich will man es und tut es meistens auch. Aber dann weiß man trotzdem nicht, ob ihr von den Morden an nicht-weißen Personen eigentlich schon gehört habt, die uns nächtelang wach hielten und unsere Läden schließen ließen. Ob ihr eigentlich von den niedergebrannten Häusern wisst, wegen denen wir uns damals Walkie-Talkies zulegten und heute in jeder neuen Wohnung Rauchmelder anbringen. Oder ob ihr bei all diesen Vorfällen gerade im Urlaub wart. Am Mittelmeer vielleicht (…)“
Drei Kameradinnen
Bazyars Roman ist nicht nur klug komponiert, sie spielt auch mit sämtlichen erzählerischen Mitteln, die zur Verfügung stehen. Die direkte Ansprache der Leser*innen ist ein wirkungsvoller Kniff, die generelle Unzuverlässigkeit der Erzählerin, die mich von Kapitel zu Kapitel das gerade neu zusammengesetztes Bild der drei Protagonist*innen erneut hinterfragen lässt, zeugt ebenfalls von der hohen Kunst der Autorin ein Porträt der Freund*innen zu entwerfen, das mich bedrückt und sogar wütend macht. Und das beginnt schon bei der Ankunft von Kasi in der Stadt: im Flugzeug wird sie von einem älteren deutschen Herrn auf Englisch angesprochen. Der Subtext ist, dass jemand wie sie doch kein Deutsch sprechen könne. Das macht Kasi wütend, während sie sich gleichzeitig für eine schwangere Mitpassagierin mit Kopftuch schämt, die im Flugzeug auf dem vermeintlich falschen Platz sitzt und so den Verkehr aufhält. Es wird sich herausstellen, dass der Platz gar nicht der falsche ist und die Frau eigentlich kein Kopftuch trägt, sondern es nur umgeworfen hat, damit ihre Haare nicht nass werden – doch sämtliche Vorurteile der Menschen im Flugzeug und gleichzeitig auch der Leser*innen werden einmal geschickt durchexerziert.
Während also auf der einen Seite die Ausschlussmechanismen der deutschen Mehrheitsgesellschaft thematisiert werden, zeigen sich in den Kindheitserinnerungen von Kasi, Bilder einer heilen Welt, in der sich die Mädchen umeinander kümmern. Kasi erzählt von Hani, die in der Siedlung anfing den Müll aufzusammeln und ein heruntergekommenes abgewracktes Auto zu putzen, damit die Gegend nicht so schäbig aussah. Dafür erfand sie einen alten Mann, der im Krankenhaus lag und sich deshalb nicht mehr um das Auto kümmern konnte – und alle Kinder der Siedlung, von der Geschichte überzeugt, halfen mit. Diese Erfahrungen bilden auch das starke Fundament der Freundschaft der drei Frauen und werden immer wieder lose neben die Erfahrungen der drei Kameradinnen im Laufe ihres Erwachsenenlebens gestellt.
Kasi hat einen Masterabschluss mit Bestnoten, findet aber keine Stelle und muss sich deshalb mit unbefriedigenden und deprimierenden Besuchen in der Agentur für Arbeit herumschlagen, während sie gleichzeitig eine Trennung verarbeiten muss. Ohne ihren deutschen weißen Freund, fühlt sie sich noch unsichtbarer in der Gesellschaft. Als er ihr noch zur Hilfe kommen will und ein Jobangebot in Bayern („Migrationshintergrund ausdrücklich erwünscht“) aus der Tasche zaubert, dass Kasi schon bei der Arbeitsagentur vor die Nase gesetzt bekommen hat, ist sie endgültig davon überzeugt, dass sie und der Ex in verschiedenen Welten leben. Saya gibt Workshops für Schulen und ist in der Bildungsarbeit aktiv und war schon immer bereit dafür, sich für das Wahre, Schöne und Gute einzusetzen. Sie ist die Idealistin – und soll doch am Ende einen Terroranschlag verübt haben? Wie kann das zusammengehören? Hani hingegen ist strebsam, zuverlässig und vor allen Dingen darum bemüht, nicht negativ aufzufallen. Sie macht sich lieber kleiner als sie ist und arbeitet als Büroangestellte in einer Organisation für den Tierschutz ohne großartige politische Reden schwingen zu wollen, auch das ist eine Überlebensstrategie. Das sie letztendlich auf ihrer Stelle gnadenlos ausgebeutet wird, nimmt sie so hin.
Das Scheitern der Ermittlungsbehörden im NSU-Mordkomplex und die dadurch entstandene Gewissheit, dass niemand die drei Kameradinnen vor rassistischer Gewalt schützen kann oder will, steht als unausgesprochener riesiger pinker Elefant im Raum. Bazyar fordert uns auf, genau hinzuschauen, festgelegte Bilder in Frage zu stellen und zeigt am Schluss, dass die Erzählerin selbst unzuverlässig ist. Es sind die blinden Flecken, die wir alle haben, auf die uns die Erzählerin hinweist, die Erzählung ist aber auch ein großer Spiegel, den die deutsche Mehrheitsgesellschaft vorgehalten bekommt, in dem die Perspektive sich ein bisschen verschieben kann und soll. Kurzum, große Erzählkunst.
Ich habe den Roman als Rezensionsexemplar gewonnen und bedanke mich sehr herzlich beim Verlag!
Ein Roman über Rumänien, in dem nicht nur ein Draculathemenpark gebaut wird, sondern sich die Hauptprotagonistin zu allem Überfluss auch noch langsam in einen Vampir verwandelt.
Rumänien und Dracula gehören natürlich zusammen. Vlad III, genannt der Pfähler, ist einer der großen rumänischen Nationalhelden des 15. Jahrhunderts. Seine Feinde, die Osmanen, spießte er auf Stangen auf und ließ sie qualvoll verenden, später setzte sich für den Diktator Nicolae Ceaușescu der Name Dracula durch. InDana Grigorceas Roman wird die rumänische Geschichte mit allerlei Gegenwartserzählungen und kulturellen Erzeugnissen verwoben, die mit den Blutsaugern zu tun haben: die Operette „Die Fledermaus“ wird so freimütig neben das unvermeidliche „verliebtes Lamm und böser Wolf“- Zitat von der schönen Bella und Glitzer-Edward gestellt. Neben historischen Details über den Fürsten wird natürlich auch auf das große Vorbild Dracula aus der Feder des irischen Schriftstellers Bram Stoker verwiesen, der sich recht ungeniert rumänischer Mythen und Darstellungen der Feinde des Fürsten bedient haben soll, um seine Schauergeschichte zu erzählen.
Dracula ist Teil des kulturellen Erbes Rumäniens, das haben auch die Bewohner*innen des kleinen Dorfes B. erkannt, in das die Ich-Erzählerin nach langer Abwesenheit zurückkehrt. Sie ist Künstlerin, hat in Paris studiert und merkt sofort, dass in B. die Uhren etwas anders ticken. Die jungen und gut ausgebildeten Menschen verlassen den Ort und gehen ins europäische Ausland, der Bürgermeister und die Lokalpolitiker*innen wissen seit Jahrzehnten an welchen Stellen sie die Hand aufhalten müssen, damit der Laden weiter laufen kann. Die Ich-Erzählerin auf der Suche nach Inspiration, lebt bei ihrer Großtante, die sie liebevoll „Mamargot“ nennt, auf einem herrschaftlichen Anwesen. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus ist das Haus mit Tennisplatz und Galerie für die schönen Künste wieder in den Familienbesitz übergegangen und seitdem Treffpunkt für Künstler*innen, Aristokrat*innen und Geldadel. Man fühlt sich wohl in seiner Blase. Kurz darauf wird in der Familiengruft eine Leiche entdeckt, der Tote wurde gepfählt. Die Entdeckung wird zur internationalen Touristenattraktion, denn das Grab von Fürst Vlad ist ganz in der Nähe und der Bürgermeister wittert eine große Chance: Wäre ein Draculathemenpark nicht eine schöne Geldquelle für das Dorf?
Neben Leichenfund und gesellschaftlichen Wandel des Dorfes, bewegt aber noch eine ganze Entwicklung die Ich-Erzählerin. Sie kann nicht nur ihre Sinneswahrnehmung auf ungeahnte Weise scharf stellen und hört im Wortsinn die Regenwürmer husten. Nach dem Besuch eines merkwürdigen kalten und steinernen Monsterwesens mit dem sie im Bett landet und dessen Dirty Talk darin besteht, ihr „Wir sîn gelîchen bluotes“ ins Ohr zu stöhnen, entdeckt sie auch die Fähigkeit zu fliegen und verliert ihr Spiegelbild. Kurz gesagt, sie beginnt sich in einen Vampir zu verwandeln und teilt diese Erfahrungen direkt mit den Leser*innen, schreibt also keine Briefe wie in Bram Stockers Dracula-Erzählung.
Sie werden in allem, was ich Ihnen erzähle, böse Anzeichen sehen Ankündigungen für das, was folgte. Sie werden sich nach Vorboten fragen, den Vorboten des Schocks, der unvorstellbaren Grausamkeiten, des Todes aller Tode.
Die nicht sterben
Grigorcea legt in ihren Roman verschiedene Interpretationsebenen an: zum einen hat die Erzählung sowohl Elemente eines Schauermärchens (düstere Atmosphäre, ein Wesen, das die Wände hochkrabbelt etc.) als auch eines Krimis (Leichenfund, wer war der Tote, etc.) und eines Sittengemäldes der rumänischen Gesellschaft. Dabei kommen weder die etwas trotteligen Dorfbewohner noch die arrogante Familie der Ich-Erzählerin besonders gut weg, die auf ihren Festen gerne den Nationaldichter Mihai Eminscu zitieren und in betrunkener Albernheit, aber doch mit gewisser Begeisterung, sein Lobgedicht auf den grausamen Fürsten rezitieren: „Ach, Pfähler! Herrscher! Kämst du doch! Mit harter Hand zu richten“. Uff.
Hat man sich an das ironische Erzählverhalten der Ich-Erzählerin gewöhnt und lässt man sich auf diese Groteske ein, muss man es wohl aushalten, dass Grigorcea kaum Antworten auf Fragen geben möchte, die sich in dieser Geschichte stellen: Sind Vampire und korrupte Politiker*innen ähnlich gefährliche Blutsauger? Braucht es über dreißig Jahre nach Ende des Kommunismus eine selbsternannte Elitevampirella, die den Bürgermeister durch die Lüfte schwingt, damit der rumänische Staat funktioniert? Warum ist ihre beste Freundin von früher auch ein Vampir? Soll das der Überlebensmodus der heutigen Gesellschaft sein? Warum wünscht sich ausgerechnet die gut situierte Künstler*innengesellschaft einen Führer zurück und warum beschränken sich die Erfolgsgeschichten der im Ausland lebenden Rumän*innen auf Anekdoten von Menschen, die nicht wissen, wie Kapitalismus funktioniert?
Stimmungsmäßig ist der Roman eine echte Wucht, gerade die Szenen, in denen die Ich-Erzählerin ihre Fähigkeiten entdeckt, haben mir sehr gefallen und werden auch mit klarer gesellschaftskritischer Ironie dargeboten. Denn natürlich kann sie nicht nur den nächtlichen Flug über die verwunschenen Wälder genießen ohne auf eine illegale Mülldeponie zu stoßen. Trotz allen Bemühungen und einem fantastischen Anfang, zerfasert die Story leider im Verlauf der Handlung, steigert sich in die Ironie oder ironische Distanzierung und gleichzeitig auch wieder nicht (sie wird zum Vampir – häh?) und bleibt deshalb auf weiter Strecke eine ziemlich blutleere (höhö, Vampirroman, die erste) Aneinanderreihung von Handlungen ohne Biss (höhö, Vampirroman, die zweite), die mich nicht nachhaltig beeindrucken konnte.
Ich habe also etwas Gesprächsbedarf: Wer hat den Roman schon gelesen? Was habt ihr mit der Geschichte angefangen? Wie seht ihr die Rolle der Ich-Erzählerin?
Dana Grigorcea: Die nicht sterben. Penguin 2021.
Ich habe den Roman als Rezensionsexemplar beim Bloggerportal angefordert. Vielen Dank!
„Es war dieser eine Sommer, wie es ihn wahrscheinlich nur einmal im Leben gibt. Dieser eine Sommer, den hoffentlich jeder hatte, dieser eine Sommer, in dem sich alles ändert.“
Der große Sommer
Für Frieder ist dieser Sommer ein Schicksalssommer. Er hat die Lateinklausur verhauen und muss in die Nachprüfung, damit er die neunte Klasse bestehen kann. Seine Familie macht Campingurlaub und er soll bei seinen Großeltern bleiben. Ausgerechnet sein Großvater soll ihm helfen, dabei hat Frieder ihn noch bis zu seinem zehnten Geburtstag gesiezt und auch sonst ist die Beziehung zwischen Enkel und Opa nicht ganz optimal. Sein Großvater ist streng, hat so seine Prinzipien und hohe Erwartungen an sich selbst und andere. Da kann ein Mittagessen schon einmal einer mündlichen Prüfung über klassische Musik gleichen. Für Frieder fühlen sich die Sommerferien bei den Großeltern mindestens wie die Höchststrafe im Knast an, doch auf einmal ändern sich diese grausamen Vorzeichen. Er lernt im Schwimmbad Beate mit dem flaschengrünen Badeanzug kennen und traut sich sogar gemeinsam mit ihr vom 7,5-Meter-Brett zu springen. Außerdem gibt es Alma und seinen besten Freund Johann, die immer für ihn da sind. Aber der Sprung ist gar nicht die größte Herausforderung, die in diesem Sommer auf ihn wartet. Er beginnt heimlich die Tagebücher seiner Großmutter zu lesen, weil er endlich verstehen will, was seine herzensgute Oma an seinem strengen Opa so liebenswert findet. Und dann wird seine Freundschaft zu Johann auf eine harte Probe gestellt. Der Klappentext verrät es bereits: der erste Sprung, die erste Liebe, das erste Unglück. Welches Unglück da auf Frieder zu kommt, ist eine gewaltige Überraschung.
Die Geschichte spielt augenscheinlich in den 1980er Jahren. Es gibt weder Handy noch Internet und der Lateinlehrer Zippo schreibt seine Korrekturen der Lateinklausur auf eine Folie, die auf einem Overheadprojektor liegt (wobei das in manchen Teilen Deutschlands ein bedauerlicherweise sehr gegenwärtiges Phänomen zu sein scheint). Die Erfahrungen, die Frieder in diesem Sommer macht, sind allerdings zeitlos. Er erlebt, in bester Coming-of-Age-Manier, alle großen Gefühle, um die es im Leben geht: Freundschaft, Liebe, Vertrauen, aber auch Angst und Tod. Dieser Sommer wird Frieder für immer im Gedächtnis bleiben, denn sein Leben wird mehrfach auf den Kopf gestellt. Frieders Gegenwart ist das eine Thema, erste Küsse und Eifersucht und Verliebtsein, aber auch die Familiengeschichte während des Krieges wird thematisiert und sorgen dafür, dass Frieder sich mit der Vergangenheit auseinandersetzt. Dabei hält Arenz gekonnt die Waage zwischen unterhaltenden und berührenden Momenten, zwischen intensivem Glücksgefühl und der größten Verzweiflung. Lustige Szenen wie nächtliche Ausflüge in Schwimmbad gehören ebenso dazu, wie schwierige Situationen, in denen Frieder Mut beweisen muss und vor schwere Frage gestellt wird, wem er in einer Krisensituation vertrauen kann. Überraschenderweise entwickelt sich so auch das Verhältnis zwischen Großvater und Enkelsohn anders als anfänglich gedacht.
Parallel zu diesen Erinnerungen an die Vergangenheit, begleiten wir den erwachsenen Frieder auf einen Friedhof. Wen er dort besucht und wer ihn aus diesem besonderen Sommer in die Gegenwart begleitet, wird erst ganz am Schluss verraten.
Ewald Arenz, Gymnasiallehrer für Geschichte und Englisch, stand mit seinem Debüt Alte Sorten 2019 auf der Liste „Lieblingsbuch der Unabhängigen“ und wurde für seine Theaterstücke mehrfach ausgezeichnet. In Der große Sommer gelingt ihm das Kunststück, einen klugen und überraschenden Coming-of-Age-Roman zu schreiben, den ich in einem Rutsch gelesen habe. Das liegt nicht nur am überzeugenden Setting und der wirklich genialen Konstruktion der Geschichte, sondern auch an den überzeugenden Figuren, die so liebevoll entwickelt werden, dass man sie nicht vergessen kann.
Elmet ist ein Gebiet im nordenglischen Yorkshire. Im Frühmittelalter war Elmet ein unabhängiges Königreich. Bis ins 17. Jahrhundert waren die Moorgebiete Zuflucht für Gesetzesflüchtige. Fiona Mozley erzählt in ihrem Debüt eine brutale Geschichte über Außenseiter und Ungerechtigkeiten.
„Wir wussten, dass es Scherereien gab. Unser Zuhause war in Gefahr. Aber in diesem Augenblick, da eine strahlendweiße Sonne ihr Licht auf meine blassen, dünnen Arme warf und ich ein dickes Stück knuspriges Speck zwischen zwei Scheiben weichem, warmem Brot in der Hand hielt, war ich rundum glücklich.“
Elmet
John Smith ist mit seinen Kindern Danny und Cathy nach Yorkshire in die Wälder von Elmet gezogen. Hier hat sich der Preisboxer ein eigenes Haus in der Wildnis gebaut und lebt als Selbstversorger ein zurückgezogenes Leben. Die Familie baut Gemüse an und jagt im Wald. Manchmal verlässt „Daddy“ die Kinder und nimmt an illegalen Faustkämpfen in London teil. Anfänglich gehen Cathy und Danny noch zur Schule, dann nehmen sie nur noch am Literaturunterricht der Außenseiterin Vivianne teil. Vivianne ist keine geborene Pädagog*in, aber tut John gerne einen Gefallen. Während der neunjährige Ich-Erzähler Danny große Begeisterung für den Unterricht entwickelt, Interesse an Kunst zeigt und das behagliche bürgerliche Zuhause der Freundin des Vaters am liebsten gar nicht wieder verlassen würde, streift die vierzehnjährige Cathy durch den Wald und beobachtet wilde Tiere. Da die Situation im Norden immer schwieriger wird, muss sich John auf zwielichtige Geschäfte einlassen und beginnt als Geldeintreiber für den Gauner Price zu arbeiten. Eines Tages steht Price vor der Tür und behauptet, das Land auf dem das Haus der Familie steht, gehöre ihm. Die Katastrophe nimmt ihren Lauf, denn John Smith will sich dieses übergriffige Verhalten nicht gefallen lassen und versucht Allianzen mit anderen Arbeiter*innen aus dem Dorf zu schmieden…
Bereits auf den ersten Seiten ist klar, dass das Projekt Elmet gescheitert ist. Der Ich-Erzähler Danny flieht vor einem Feuer, er verlässt das „verwüstete Land“ (S.9), hinter ihm „züngelnde Flammen“ (S.9), „die Überreste von Elmet“ (S.11) unter seinen Füßen. Abwechselnd changiert die Perspektive zwischen Danny auf der Flucht und den ersten Tagen der Familie in Elmet und ungeahnten Entwicklungen, die zu einer brutalen Katastrophe führen. Die Geschichte ist traurig, brutal und nicht wirklich vorhersehbar, auch wenn das Ende des Romans bereits vorweg genommen wird. Fiona Mozley hat aber nicht nur eine überaus berührende Familientragödie verfasst, in der die verarmten Außenseiter*innen versuchen, gegen die Mächtigen des Ortes vorzugehen. Aus der Perspektive von Danny erleben die Leser*innen auch viele besondere Naturbeschreibungen, die an das New Nature Writing erinnern.
„Der Frühling begann richtig mit Wolken von Blütenstaub und tanzenden Mauerseglern. Die kleinen Vögel, wieder da, um nach einem Flug von Tausenden von Kilometern wieder zu nisten, wurden vom Wind, der mal warm, mal kalt wehte, hin und her geworfen. Sie waren zu leicht, um wie Möwen oder Krähen auf die Windböen loszugehen, und durch sie sah ich den Wind wie ein Meer. Dicke, weiche Wellen, die an bewaldete Erdküsten brandeten und winzige Geschöpfe gegen vorspringende Felsen warfen. Die Mauersegler surften und tauchten und durchschnitten die unsichtbare Masse, die für sie so laut tosen und heulen musste wie jegliches Meer auf Erden, nur um dann die Luft wieder im Aufwind einzufangen und bis ganz nach oben aufzusteigen. Sie waren Experten. Sie wussten, wie man es macht. Und sie brachten den wahren Frühling.“
Elmet
John, Cathy und Danny sind ein bisschen wie die oben beschriebenen Mauersegler. Sie werfen sich gegen vorspringende Felsen und fangen die Luft im Aufwind ein, damit sie bis ganz nach oben aufsteigen können. Sie sind Expert*innen, den eigentlich wissen sie ganz genau, wie man das macht – überleben. Doch mit einem Menschen wie Price haben sie nicht gerechnet.
Ein bisschen schwarz-weiß gezeichnet sind die Figuren schon, auf der einen Seite die guten Aussteiger*innen, auf der anderen Seite die schlechten Menschen um Price. Trotzdem gibt es eine klare Leseempfehlung für diese berührende Geschichte, auch wenn Mozley vor brachialen Szenen nicht zurückschreckt. 2017 landete sie mit ihrem Debüt auf der Finalistenliste des Man Booker Prize.
Fiona Mozley – Elmet. Aus dem Englischen von Thomas Gunkel. btb 2020.
Ich habe den Roman als Rezensionsexemplar beim Bloggerportal angefragt! Vielen Dank!
Mirna Funk erzählt eine Geschichte über die Verheerungen des Holocaust und die seelischen und psychischen Folgen für die dritte Generation
Wenn die 35-jährige Nike in Berlin aus ihrem Haus tritt, stolpert sie über die Lebensdaten ihrer jüdischen Urgroßmutter Dora, die 1941 in Frankreich unter unklaren Umständen ums Leben gekommen ist. Seit 1996 verlegt der Künstler Gunter Demnig zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus Stolpersteine in verschiedenen Ländern Europas. Mit 75000 Steinen in 1265 deutschen Kommunen handelt es sich um das größte dezentrale Mahnmal der Welt.
Nike ist in Ost-Berlin aufgewachsen und forscht über Jüd*innen in der DDR. Weder ihre Mutter Lea noch ihre Großmutter Rosa haben Verständnis dafür, dass die Vergangenheit für Nike wichtig ist. Doch es stehen große Veränderungen an. Unverhofft bekommt Nike die Möglichkeit, in Israel für ihr Projekt weiterzuforschen. Durch eine Ausnahmeregelung des israelischen Staates ist es ihr erlaubt, die israelische Staatsbürgerschaft anzunehmen, ohne die deutsche ablegen zu müssen. Israel soll ein Neuanfang werden, aber der Versuch der eigenen Vergangenheit zu entfliehen schlägt fehlt.
Als Nike nach Tel Aviv umzieht, wandelt sich die Geschichte. Eine neue Figur tritt neben die Ich-Erzählerin Nike, das Du, in diesem Fall die Figur Noam, die wie Nike eine eigene Geschichte von Traumata mit sich herumträgt. Noam, Mitte 40, Kolumnist für die Haaretz mit Vorliebe über sozialkritische Themen. Er lebt seit dem Tod seines Vaters in einer dysfunktionalen Abhängigkeit zu seinem Onkel Asher, ist arrogant und selbstgefällig und hat am laufenden Band Affären. Er verliebt sich ausgerechnet in Nike, die in Israel auf der Suche nach der Vergangenheit von Dora ist. Niam ist der erste Mann, den Nike seit Jahren in ihr Leben lässt, doch Niam hat ein Geheimnis.
Alles hängt mit allem zusammen oder die Wunden der Vorfahren lassen sich nicht verstecken: „Ohne Nazis kein Toulouse, ohne Toulouse keine Vergewaltigung, ohne Vergewaltigung kein Mord, ohne Mord eine andere Rosa, ohne Mord eine andere Lea, ohne Mord ein anderes Ich.“ Als Nike sich mit der schmerzhaften Vergangenheit ihrer Familie auseinandersetzen muss, gerät auch ihre eigene Geschichte mit ihrem Exfreund Sascha in den Fokus und alles, was sie mit ihm als 18-jährige erlebt hat.
Es ist schwierig, über die Geschichte zu schreiben, ohne zu viel zu verraten. Sehr virtuos verknüpft Mirna Funk unterschiedliche Erzählungen und Geschichten miteinander, zeigt den Leser*innen, welche Stolpersteine für die dritte Generation der Jüd*innen heute im Alltag vorhanden sind. Das Dazwischen ist der Ort des Schmerzes, das Zwischen steht zwischen den Menschen und verhindert echte Nähe. Das zeigt sich besonders an Nike, die immer wieder abwägen muss, welchen Weg sie gehen möchte. Transgenerationelle und persönliche Traumata erschweren die Liebesgeschichte zwischen Nike und Niam und sorgen für einen (erneuten) Bruch im Leben der Protagonist*innen. Einfühlsam erzählt Mirna Funk von der Gewalt, die in den Familiengeschichten der Protagonist*innen steckt und über „Schattenküsse, Schattenliebe, Schattenleben“ (Heinrich Heine), die nicht vergessen werden können.
Die österreichische Schriftsteller*in Raphaela Edelbauer erzählt in ihrem neuesten Roman von einer ganz besonderen Künstlichen Intelligenz und der totalen Überwachung.
Die Erde ist ruiniert, der Planet ist kaputt. Die Menschheit kann nur überleben, indem sie sich in einem abgeschotteten Labor vor äußeren Einflüssen schützt. Die Gesellschaft ist streng hierarchisch aufgebaut und orientiert sich an Platons Ideenlehre: oben arbeiten die wichtigsten Stützen der Gesellschaft, unten der Rest. Der Sinn des Lebens besteht darin, zu arbeiten und zu funktionieren. Da Menschen fehlbar sind, hat ein großer Riesencomputer den Status des gesellschaftlichen Kontrolleurs oder wahlweise der Ersatzreligion angenommen. Je näher man in der Laborwelt an der KI DAVE arbeitet, desto höher ist das gesellschaftliche Ansehen. Besonders wichtig sind daher Programmierer*innen, die seit Jahren daran arbeiten, passende Scripts für DAVE zu entwickeln, die den Computer darin unterstützen, menschliche Kommunikation zu „erlernen“. Wenn der Supercomputer eine Rettung für die Menschheit weiß, muss er sie ja auch verständlich mitteilen können. Der Ich-Erzähler Syz arbeitet ebenfalls als Programmierer. Durch eine zufällige Begegnung lernt er die Ärztin Khatun kennen und verliebt sich in sie.
Bekannte Dystopien wie Schöne neue Welt oder 1984 fallen mir ein, wenn ich Edelbauer lese. Aber der Twist mit dem Supercomputer ist doch noch eine Spur smarter, als man zunächst denken mag. Ein technischer Ausfall sorgt für eine Krise im Labor und durch Zufall gerät Syz an einen Generalschlüssel, der ihm Zugang zu anderen Ebenen und einem verschlossenen Archiv verschafft. Eine Sensation! Zeitgleich tun sich unverhofft berufliche Chancen auf: Syz wird als menschliches Vorbild für DAVE ausgewählt und soll dazu beitragen, dem Computer menschliches Verhalten nachvollziehbar einzuprogrammieren. Syz ist Feuer und Flamme für seine technische Pionierarbeit, immerhin soll er dazu beitragen, die erste urteilsfähige Maschine der Weltgeschichte zu bauen. In wöchentlichen Sessions darf Syz den Professor*innen Blumenthal und Fröhlich, sowie einem ausgewählten Forscherteam, seine Kindheits- und Jugenderinnerungen vortragen, nach denen DAVE programmiert werden soll: „Sie und DAVE müssen eins werden. Das ruft Neider und Saboteure auf den Plan. Also arbeiten wir stets nachts, stets dezent, stets geräuschlos.“
Syz Aufstieg bleibt nicht ohne Folgen. Ein größeres Zimmer winken und der Auftrag sich 24/7 mit den eigenen Erinnerungen zu beschäftigen. Da Syzs Lebensweg absolut durchschnittlich verlaufen ist, hat sich das Professor*innenteam für ihn entschieden. Was niemand weiß: Syz war als Kind zwar außergewöhnlich talentiert , litt aber auch unter seinem gewalttätigen Vater. Da das Verhalten des Vaters aber nie aktenkundig und damit offiziell wurde, versucht Syz sich jetzt verzweifelt retrospektiv in den wöchentlichen Sessions eine normale Kindheit zu entwerfen. Das gelingt ihm aber nicht immer, sein Unterbewusstsein sträubt sich. Er entwickelt kurzfristige Amnesien, die im Zusammenhang mit den Kopiervorgängen stehen und deutliche Zeichen psychischer Überlastung. Syz steht so unter Druck, dass er der Realität nicht mehr trauen kann – oder verliert er einfach den Verstand? Mysteriöse Botschaften, die ihm anonym zugetragen werden, interpretiert er als Warnung vor DAVE. Doch wie soll er sich verhalten, wenn er doch zugestimmt hat, dass der Computer bald seine individuellen Erinnerungen als Reaktionsmodell für menschliche Kommunikation benutzen darf?
Zudem bekommt das gesellschaftliche Gefüge Risse. Je näher die Vollendung des Supercomputers bevorsteht, desto aggressiver verhalten sich die Menschen der Laborgesellschaft. Dogmatische philosophische Debatten werden ausgetragen, in denen DAVE einerseits als Retter der Menschheit unter dem Schlachtruf „DAVE jetzt!“ und andererseits als größte Katastrophe der Gegenwart diskutiert wird. Syz, das menschliche Vorbild des Supercomputers, muss seinen Weg in dieser Gesellschaft erst noch finden.
DAVE hat es mir anfänglich nicht leicht gemacht. Sprachlich bohrt Edelbauer, Jahrgang 1990, wirklich dicke Bretter und bedient sich vieler Ausdrücke, die im Duden als bildungssprachlich gekennzeichnet werden und die ich zum Teil noch nie gehört habe. Ich muss nachschlagen, was beispielsweise dispergieren bedeutet und fühle mich auf den ersten 30 Seiten einfach nicht schlau genug für den Text. Das ändert sich aber, sobald die erste technische Katastrophe eintritt und die Handlung voranschreitet. Actionszenen im Labor wechseln sich mit Erinnerungen an Indoktrinationsunterricht aus der Vergangenheit ab, in dem Kindern die Rolle der Super-KI DAVE erklärt wird und die Leser*innen immer tiefer in Syzs Gegenwart eintauchen.
Anders als in mancher gegenwärtiger englischsprachiger Science-Fiction, ich habe vor kurzem Matt Ruffs 88 Namen gelesen, ist DAVE eine klassische Dystopie, in der Syz als kleines Rädchen im System anfängt, die „großen Fragen“ zu stellen. Kann die KI die Menschheit retten oder sind wir verloren? Und was ist der Preis, den wir als Gesellschaft oder als Einzelne*r für das Überleben zahlen müssen? Edelbauer wählt einen smarten Weg, die klassischen Ansätze zu verbinden. Bei den laborgesellschaftlichen Debatten muss ich direkt an Aluhüte denken und bin trotzdem vom Worldbuilding der Autor*in überzeugt. Edelbauer hat einen raffinierten Roman geschrieben, der Kennern des Genres und ambitionierten Hobbyphilosoph*innen großen Spaß machen wird. DAVE jetzt!
„Manchmal schloss ich nachts die Schule auf, ging durch das flache, unbeleuchtete Gebäude, betätigte dabei einen Lichtschalter nach dem anderen und sah, wie das Licht die Dunkelheit über mir aufriss, als wäre ein Schwarm schlummernder Insekten geweckt worden und schwärmte nun gereizt in die Räume aus.“
Der 26-jährige Henrik ist Aushilfslehrer in Nordnorwegen. Eigentlich möchte er Schriftsteller werden, aber das hat bisher nicht geklappt. Seine Eltern sind Lehrer, warum nicht diesen Job ausprobieren? Henrik landet nach dem Studium an einer Oberschule und wird direkt Klassenlehrer. Die Gemeinde, in der er arbeitet, ist winzig. Gerade einmal 300 Menschen leben in dem kleinen Dorf, jede*r kennt jede*n. Das macht es für den Zugezogenen nicht so einfach. Henrik ist sehr unsicher und fühlt sich nur bei seinen Schüler*innen wohl. Er verliebt sich in die 13-jährige Miriam, schläft mit ihr und flüchtet sich danach in seine alte Heimatstadt Kristiansand, der Roman endet damit, dass der Ich-Erzähler Miriam wiedersieht. Ob sie irgendjemandem von ihm erzählt hat, bleibt offen.
Knausgårds Debüt wurde bei Erscheinen 1998 direkt mit dem Norwegischen Kritikerpreis ausgezeichnet, die Zeitung Dagbladet nannte den Roman „das wichtigste Buch der letzten 25 Jahre“. Ziemlich viel Lob für eine Lolita-Story, die konsequent aus der Sicht des Täters erzählt wird und deswegen so fürchterlich unangenehm zu Lesen ist. Dabei kommt man nicht umhin, fast so etwas wie Mitleid für diesen Ich-Erzähler zu entwickeln und das ist so fürchterlich anstrengend an dieser Lektüre. Denn ja, dieser Henrik ist doch ein wirklich schlauer und sympathischer Kerl, oder etwa nicht?
Berit Glanz hat auf Twitter bereits darauf hingewiesen, dass das Erscheinen des Romans in Skandinavien zu großen Debatten geführt hat. Während der Roman in Norwegen vor 20 Jahren direkt ausgezeichnet wurde, gab es zum Erscheinen in Schweden 2015 große Kritik. Ebba Witt-Brattström, Literaturprofessorin an der Uni Helsinki, warf Knausgaard „literarische Pädophilie“ vor, da die erotische Anziehungskraft eines 13-jährigen Kindes literarisch ausgestellt würde, und bezog sich dabei auf einen in Schweden seit längerer Zeit geführten Diskurs um den „Kulturmann“, in dessen Fiktion und Verhalten, weiblich gelesene Personen allein als Figuren des eigenen Begehrens erscheinen. Knausgård reagierte auf diesen Vorwurf im Feuilleton und warf der feministischen Kritik vor, durch übertriebene Moralvorstellungen die Freiheit der Kunst zu beschädigen. Im deutschen Feuilleton scheint weder die Debatte über den Text, noch der Text an sich, problematisierend dargestellt zu werden, mit Ausnahme eines Beitrags in der Zeit (Oktober 2020), in der Adam Soboczynski zumindest darauf hinweist, dass sich seit den zwei Jahrzehnten die zwischen Debüt und Übersetzung liegen, der Blick auf die Literatur und die Künste verändert habe, da sich mittlerweile kein Schriftsteller mehr auf die Autonomie der Kunst und ihre Eigengesetzlichkeit berufen könne. Florian Keisinger schreibt auf fixpoetry dazu:
„Man darf „Aus der Welt“ somit als den ersten literarischen Baustein lesen in einem Verwirrspiel, das Knausgård seither zu einiger Perfektion getrieben hat. Ein Spiel, bei dem den Lesern vorgegaukelt wird, sich aufgrund der vermeintlichen Selbstentblößungen des Autors diesem in seinem innersten Kern anzunähern, wenngleich die Phantasie der Rezipienten in Wahrheit genau dahin gesteuert wird, wo Knausgård sie haben möchte.“
Der Roman besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil wird die Geschichte von Henrik erzählt, der sich an seine minderjährige Schülerin heranmacht, danach erfahren wir die Liebesgeschichte seiner Eltern, vom fabelhaften Beginn bis zum tragischen Scheitern, die Henrik und sein eigenes Scheitern nach wie vor prägen. Die gescheiterte Beziehung der Eltern wird so über die literarische Konstruktion der Erzählung noch einmal im Verhalten des Erzählers gegenüber dem minderjährigen Mädchen gespiegelt. Henriks Vater war ebenfalls Lehrer und Alkoholiker, die Beziehung von Vater und Sohn höchst belastet. Kennt man die Reihe Min kamp hat man das Gefühl, dass sich autobiografische Erzählung und Fiktion hier sehr nahe kommen, denn vieles aus dem Alltag aus Henriks Familie kommt in Variationen auch in der autobiografischen Reihe vor. Herausfordernd wird der Roman an den Stellen, an denen man als Leser*in in eine Zwickmühle gerät und nicht umhin kann, Verständnis für diesen Ich-Erzähler zu entwickeln. Er hat es nicht leicht im Leben, er macht sich viele Gedanken, er ist abgehoben und gleichzeitig auch sympathisch und hat doch, wie man im Laufe der Handlung mit Erschrecken feststellt, seine Grooming-Methoden immer weiter perfektioniert. Henrik überlegt sich, welche Gespräche er mit Miriam führen kann, welche Themen sie ansprechen, wie er ihr gefallen könnte und verliert sich in absurden Fantasien, in denen er ihr unterstellt, sie lege bestimmte Verhaltensweisen nur für ihn an den Tag. Als Lesende erfahren wir jede Gefühlsregung von Henrik, die Gedanken, die er sich zu seinen Kolleg*innen macht, die eigenen Komplexe, die eigene Unvollkommenheit, die eigenen Schamgefühle, die eigene Unfähigkeit und das ständige Auf- und Ab, die den Erzähler begleiten.
Gleichzeitig und das erinnert an die spätere Reihe, kommen bereits in Knausgårds Debüt essayartige Einschübe vor, die gar nichts mit der Handlung zu tun haben und die manchmal gelungen und manchmal nur sehr lang sind. Das sind zum Teil phantastische Elemente, zum Beispiel taucht Jesus in Henriks Zimmer auf und unterhält sich mit ihm über seine Unfähigkeit an ihn zu glauben oder aber die ganze Szenerie kippt in eine Art Traumwelt, in der Henrik verheiratet ist und auf einer phantastischen Bohrinsel arbeitet, die irgendwo in Richtung Himmel führt oder aber Dante und Kant tauchen auf. Das habe ich sehr gern gelesen.
Der Roman ist mit über 900 Seiten keine Geschichte für zwischendurch. Vieles wirkt sehr in die Länge gezogen und die Ambivalenz gegenüber der Hauptfigur, die sich vielleicht auch vieles zu einfach macht, blieb bei mir während des Lesens ständig im Hinterkopf. Gerade deswegen hat mir der Roman auch gefallen, denn die eingenommene Perspektive ist keinesfalls einfach und das Ende, bei dem Miriam und Henrik wieder aufeinandertreffen, ist vielleicht nur der Auftakt für eine noch größere Katastrophe. Im Interview mit dem WDR sagt Knausgård selbst über sein Debüt:
„Dieses Buch ist für mich Ausdruck literarischer Freiheit. Und danach strebe ich bis heute. Nichts planen, nicht nachdenken, einfach schreiben und dem folgen, was da entsteht. Seit meinem Debüt habe ich gewusst, dass es einen Ort für mich und mein Schreiben gibt. Für den Leser ist mein erstes Buch dagegen vielleicht einfach zu viel des Guten.“
Aus der Welt. Übersetzt von Paul Berf. Luchterhand 2020.
Der Roman spielt in Los Angeles, handelt aber nicht von Hollywood. Es treten Hexer auf, die tatsächlich verzaubern, Menschen, die einem den Weg weisen, Katzen und Kojoten, Mutter und Tochter, der Tod und die Liebe.
Ohne große Erwartungen nimmt Lou an einem Tanzkurs teil. Sie hat einen alten Bekannten wiedergesehen, der sie unerwartet einlädt. Der meditative Tanz, der manchmal eher Modern Dance gleicht, ist besonders. Der Meister, der das Training durchführt, spricht nicht mit jedem. Sie sind Künstler, denkt Lou. Erst später wird sie feststellen, dass der Tanzlehrer Hexenmeister ist.
Lou wird in den Kreis der Tänzer aufgenommen. Alles, was vorher sicher oder auch festgefahren war, ist es nicht mehr. Durch den Meister gelangt die Magie in Lous Leben zurück. Sie wird Teil der Gruppe, sie verlässt ihre alte Wohnung, sie nimmt einen neuen Namen an. Und sie wartet auf die kleinen magischen Momente, die der Meister ihr eröffnen wird und die sie plötzlich in sich selbst findet. Lou ist nicht allein, auch andere Frauen haben sich der Gruppe angeschlossen. Es wird getanzt, manche machen Musik, die Menschen leben zusammen. Und dann gibt es ein Kind, das vom Meister gefunden wird. Sie sucht sich Lou aus und Lou wird Mutter.
Das Leben im magischen Kreis des Meisters läuft nach anderen Maßstäben , als die Realität. Lou merkt nicht, dass Jahre vergehen. Als eine ehemalige Klassenkameradin im Haus gegenüber einzieht, nennt Lou ihr gegenüber nicht ihren alten Namen. Aber die anderen aus der Gruppe werden misstrauisch. Hat Lou wirklich alle Kontakte abgebrochen? Die Loyalitäten schwanken, mal gehört eine Frau zum inneren Kreis, dann wieder eine andere und auch Lou spürt, dass von manchen Frauen eine ganz besondere Energie ausgeht. Als der Meister überraschend verschwindet, muss Lou ihr Leben gemeinsam mit ihrer Tochter neu ordnen.
Der Roman wird in Rückblenden erzählt. Wir lernen die Ich-Erzählerin Lou zu einem Zeitpunkt kennen, als der Meister bereits verschwunden ist und sie mit einigen Übriggebliebenen in einem merkwürdig heruntergekommenen Wohnareal lebt. Ihre Tochter wartet noch auf seine Nachrichten, aber Lou weiß, dass der Meister nicht zurückkommt. Er soll krank gewesen sein. Wie kann das Leben also weiter gehen?
Alexanders Hexenmeister und Hexen sind sehr subtil unterwegs. Sie spüren Energien auf, sie tanzen, sie bieten Yoga an, sie orientieren sich an Heilsteinen und Talismanen, sie sind so normal, wie du und ich. Und trotzdem scheinen zwischendurch diese Momente des Magischen durch den Text. Hat Lou sich wirklich in eine Katze verwandelt? Man kann es nicht genau sagen. Die heulenden Koyoten, die irgendwann verschwinden, könnten ein Zeichen dafür sein, dass auch die Hexen verschwunden sind. Vieles bleibt ungesagt, in diesem Text oder entzieht sich der konkreten Bedeutung. Das macht die Geschichte auch so flirrend und unvorhersehbar. Wenn Lou nach Jahren der Orientierungslosigkeit und einer Phase der Hexerei jetzt endlich weiß, was sie mit dem Leben machen möchte und sogar bereit dafür ist, ein Kind großzuziehen, hat der magische Zirkel des Meisters nicht doch etwas bewirkt? Ein besonderes Debüt ist der Roman nicht nur wegen seiner subtilen Symbole, auch wegen der Bedeutung, die Alexander transportiert: ein neues Leben ist immer und jederzeit möglich. Wir müssen unsere Augen nur für die Welt und die Menschen um uns herum öffnen.