Justizpalast

Das ist also unsere Gerechtigkeitsfabrik. Am Ende hoher, höhlenartiger Zimmer sitzen Richter wie Grottenolme auf Papierbergen, jeder für sich. Nach drei Wochen Aktenwühlerei fragte Thirza Frau Meindl nach den offenen Verfahren der beiden Kollegen und erhielt die Antwort: hundertdreißig und hundertfünfundvierzig.

(S. 101)

Thirza Zorniger hat es nicht leicht und hatte es nie leicht. Ihr Vater, ein erfolgreicher Schauspieler, hat die Familie verlassen. Die kleine Thirza kommt zu ihrem Großvater und zwei Tanten nach München. Hauptsache, sie funktioniert und macht keine großen Schwierigkeiten. Bei ihrem Großvater findet sie zwar stabile Verhältnisse, aber auch eine klare Vorstellung davon, wie das Leben zu sein hat. Als Thirza, genau wie der Großvater, Juristin werden möchte, bricht dieser in Gelächter aus. Ihr Großvater kann sich nicht vorstellen, dass Thirza in dieser Männerwelt bestehen kann. Die unaufgearbeitete Rolle des Großvaters während des Nationalsozialismus schwebt wie ein dunkler Schatten über der Geschichte.

Justizpalast

Thirza kämpft und will allen das Gegenteil beweisen. Sie beißt sich durch ihr Studium und gibt nicht auf, bis sie selbst eine Robe tragen darf. Sie wird Staatsanwältin, Richterin am Amtsgericht, dann am Landgericht, zum Schluss Vorsitzende einer Zivilkammer. Der Erfolg fällt Thirza nicht in den Schoss, sie gibt alles dafür. Allein, ihr Privatleben bleibt dabei auf der Strecke. Thirza ist auch in ihrer Freizeit eher Grottenolm. Sie fährt alleine in den Urlaub und manchmal geht sie sogar während ihres Urlaubs ins Gericht, so sieht Arbeitshaltung aus. Freunde hat sie kaum, diejenigen, die sie hat, sind ebenfalls Juristen. Thirza glaubt lange Zeit, dass diese Einsamkeit zu ihrem Leben dazu gehört. Der Justizpalast in München ist ihre Wirkungsstätte, die Fälle, mit denen sie zu tun hat, wirken mitunter erschreckend dröge und sehr echt.

Kein Wunder, denn Petra Morsbach hat mit über 50 Jurist*innen gesprochen und so Einblicke in den Arbeitsalltag am Gericht erhalten. Der Aktenstau, die offenen Verfahren, das Gefühl, den Geschädigten häufig nicht einmal Recht zuteil werden zu lassen – diese Aspekte des Richterberufs erfasst Morsbach klar und unglaublich präzise. Die kauzigen, arroganten, weisen und zum Teil überraschend leidenschaftlichen Jurist*innen, denen Thirza begegnet, haben eins gemeinsam: ihr Zuhause ist der Justizpalast. Thirza, ein funktionierendes Rädchen im Getriebe, gibt ihr Bestes und doch ist das häufig nicht genug. Mindestens 100 Fälle aus Thirzas Alltag werden den Leser*innen auf den knapp 500 Seiten präsentiert. Die steinreiche Millionenerbin, die um ein paar tausend Euro vor Gericht kämpft, ist genau so teil dieser illustren Sammlung von Fällen wie die Nachbarn, die sich darüber in die Haare kriegen, dass die Bäume ein paar Zentimeter gekürzt werden sollen. Das ist mal traurig, mal skurril (eine Frau verliert ihren Mann durch einen Wal, nun ja, solche Dinge passieren), manchmal eben auch etwas trocken zu lesen.

Startet Thirza noch voller Elan und Idealismus in ihre Karriere, wird ihr spätestens als Richterin klar, dass erfolgreiche Strafprozesse nach vier goldenen Regeln ablaufen. Erstens, Vergleiche sind das A und O, zweitens, am besten niemand klagt, drittens, wird ein Urteil aufgehoben, hat irgendeine richterliche Instanz versagt, weil das Urteil nicht hieb-und stichfest begründet wurde und viertens, Recht und Gerechtigkeit sind zwei Paar Schuhe. Das Privatleben steht in starkem Kontrast zu dieser Welt der Akten und nicht immer gerechten Urteile. Nach einigen gescheiterten Versuchen findet Thirza mit Max dann doch das große Glück – wenn auch nicht für die Ewigkeit.

Morsbach hat einen herrlichen selbstironischen Stil, den man leicht überlesen kann. Thirza sagt zum Beispiel, sie als Hauptfigur, dürfe jetzt ohne Weiteres das Thema wechseln. Und als Thirza einmal ein Buch in die Hand nimmt, legt sie es mit den Worten: „Morsbach, keine Ahnung, was daran komisch sein soll“ wieder weg.

Hat man den Roman gelesen, hat man auch als juristischer Laie das Gefühl, irgendwie ein bisschen mehr verstanden zu haben. Davon wie Gesetze und das Justizsystem funktionieren und leider auch davon, wie Richter*innen, Sachbearbeiter*innen und alle Beamt*innen des Justizapparates leicht von dieser großen Aufgabe zerrieben werden können. Denn da Recht und Gerechtigkeit nicht immer zusammen fallen, kann es häufig nur eine Annäherung an ein vermeintlich gerechtes Urteil geben. Gerade deshalb ließ mich der Roman zum Ende hin, sehr melancholisch werden.  Misst sich das Können eines Richters an seinen gnadenlosen Urteilen, seinem Einfühlungsvermögen oder seinem Bearbeitungseifer, wenn es um offene Verfahren geht?

Als Petra Morsbach Anfang des Jahres in Bremerhaven war und bei der Literarischen Woche aus ihrem Roman Justizpalast las, war ich sofort begeistert und wollte den Roman unbedingt lesen. Mein erster Eindruck hat mich nicht getäuscht, der Roman ist toll. Im Gespräch, das sich der Lesung anschloss, erzählte Petra Morsbach, dass sie zehn Jahre für diesen Roman recherchiert habe. In einer heißen Phase, mietete sie sich eine Kabine auf einem Frachtschiff und schrieb ihren Roman auf hoher See, denn dort konnte sie nichts von ihrer Geschichte ablenken. Der Aufwand hat sich gelohnt. Für Justizpalast hat Morsbach den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2017 erhalten.

Petra Morsbach: Justizpalast. Knaus 2017.

Ich habe den Roman als Rezensionsexemplar vom Bloggerportal erhalten. Vielen Dank! 

Weitere Rezensionen findet ihr hier:

 

Nordkorea – Innenansichten eines totalitären Staates

Vor Kurzem hatte ich euch schon von meinem englischen Bookclub erzählt. Anfang des Jahres haben wir Nothing to envy Barbara Demick gelesen. Ein Buch, in dem nordkoreanische Geflüchtete zu Wort kommen und ihre Schicksale beschreiben. Leider erfährt man als Leser*in trotzdem sehr wenig über das ohnehin abgeschottete Land. Ich habe also nach einem Buch gesucht, das mir in dieser Hinsicht eine bessere Alternative bieten kann.

IMG_20171211_162449Rüdiger Frank ist Professor für Wirtschaft und Gesellschaft Ostasiens an der Universität Wien und Vorstand des dortigen Instituts für Ostasienwissenschaften. Geht es um Nordkorea, ist er einer der prominentesten deutschsprachigen Experten. Der gebürtige Leipziger studierte bis kurz nach dem Mauerfall in Ostberlin Koreanistik bei Helga Picht, einer ausgewiesenen Nordkoreakennerin, die unter anderem bei Treffen zwischen Honecker und Kim Il-Sung als Übersetzerin dabei war. Durch die guten Kontakte von Picht, durfte Frank 1991/1992 für ein Auslandssemester nach Pjöngjang an die Kim-Il-Sung-Universität reisen, weil es Absprachen zwischen der DDR und Nordkorea zum Austausch von Studierenden gab, die auch nach dem Mauerfall noch gültig waren. Seitdem war Frank mehrfach in Nordkorea und seine Beobachtungen fließen auch immer wieder in das Buch mit ein. Er schreibt selbst, dass er als ehemaliger DDR-Bürger vom Mauerfall überrascht war – deshalb versucht er sich mit Vorhersagen zur Entwicklung des Landes zurückzuhalten.

Man braucht schon ein dickes Fell, wenn man sich über Nordkorea äußert, denn unabhängig vom politischen Lager und dem tatsächlichen Wissen scheint so gut wie jeder eine feste Meinung dazu zu haben. Eine differenzierte Haltung wird oft heftig abgelehnt. Das Land hat gefälligst schwarz und weiß zu sein. (S.12)

Dass diese Schwarz-Weiß-Schablone auf ein so komplexes Land nicht immer ohne Weiteres passt, versucht Frank in seinem Sachbuch darzustellen. Er nähert sich dem Phänomen Nordkorea auf etwas über 400 Seiten ziemlich anschaulich und versucht in neun differenzierten Kapiteln auch die (zum Teil auch paradoxen) Entwicklungen des Landes zu analysieren. Zum einen beschreibt Frank die spezielle nordkoreanische Ideologie die dem politischen System zugrunde liegt, er beschreibt die Wirtschaft des Landes und welches Reformpotenzial er unter Kim Jong-un tatsächlich sieht. Dieses Kapitel hat mich besonders überrascht, denn anders als ich anfänglich gedacht habe, deuteten sich zumindest seit den 2000 Jahren vorsichtige Änderungen innerhalb des Systems an, gerade wenn man sich die wirtschaftliche Entwicklung ansieht. Nun ist Frank Experte für wirtschaftliche Fragen und wahrscheinlich beschreibt er deswegen auch in einem ganzen Kapitel den Aufbau und das vorläufige Scheitern einer Sonderwirtschaftszone zwischen Nord- und Südkorea, das war mir etwas zu lang. Zudem ist das Sachbuch im Januar 2017 in der aktualisierten Auflage erschienen, die seit dem andauernden Raketentests oder das angespannte Verhältnis zu den USA wird nur am Rande gestreift. Zum anderen ergänzt Frank immer wieder Erlebnisse und eigene Beobachtungen von seinen Reisen nach Pjöngjang, die mir besonders gut gefallen haben. Ein Kapitel widmet sich zum Beispiel ganz dem Arirang, eine Art jährlichem ideologischen Massenspektakel zur Feier des Landes, das Frank besuchen konnte. Weiterführende Literaturhinweise (die man nicht vernachlässigen sollte) sind auf 30 Seiten Anmerkungen enthalten.

Ich habe vor Kurzem die Graphic Novel Pjöngjang von Guy Delisle gelesen, die ich sehr gelungen finde. Delisle ist 2003 nach Pjöngjang gereist. In seiner Graphic Novel gelingt es ihm mit einem sehr minimalistischen Zeichenstil Pjöngjang aus der Perspektive eines Ausländers zu beschreiben. Delisle durfte ohne Dolmetscher und offizielle Regierungsbeauftrage nicht einmal sein Hotel verlassen, obwohl er im Auftrag seiner Firma die Animationsarbeiten an einem Trickfilm überprüfen und anleiten sollte. In der Graphic Novel wird die Enge und gleichzeitige Leere der Stadt sehr anschaulich geschildert sowie die Überwachung und Kontrolle anderer Regisseure, die Kindertrickfilme für die westliche Welt produzieren. Neben absurd erscheinenden Museen, in denen die Größe von Kim Jong-un und seinem Vater beschrieben werden, sieht Delisle wenig von Pjöngjang, geschweige denn vom restlichen Teil des Landes. Aber da geht es den Südkoreaner*innen nicht anders.

Allein im Jahr 1987 gab es 1,3 Millionen Besuche von DDR-Bürgern in der BRD und Westberlin. Die Zahl der Nordkoreaner, die legal Südkorea bereist haben, kann man an wenigen Händen abzählen. (S. 353)

Frank hat da einen deutlich differenzierteren Blick und mehr Möglichkeiten, das Land zu betrachten. Besonders gefallen haben mir die ersten Kapitel, in denen der Wissenschaftler auf typische koreanische Traditionen und geschichtliche Entwicklungen des Landes (die Erfahrungen der japanischen Kolonialisierung und die damit einhergehende Unterdrückung der eigenen Sprache und der erzwungenen Verehrung des japanischen Kaisers als Gott; der Koreakrieg) sowie die Verbindungen zum totalitären Regime eingeht. Der Personenkult um Kim Il-sung und seinen Sohn Kim Jong-il geht sogar so weit, den beiden übernatürliche Fähigkeiten zuzusprechen; von Wunderheilungen und hellen Sternen bei der Geburt des Sohnes sowie aufsteigenden Kranichen (wichtige Symbole im Konfuzianismus) ist da die Rede.

Die in Schulzeugnissen an oberster Stelle gelisteten fünf Schulfächer sind „Revolutionäre Aktivitäten des Großen Führers Generalissimo Kim Il-Sung“, „Revolutionäre Geschichte des Großen Führers Generalissimo Kim Il-Sung“, „Revolutionäre Aktivitäten des Großen Führers General Kim Jong-il“, „Revolutionäre Geschichte des Großen Führers General Kim Jong-il“ und „Revolutionäre Geschichte der antijapanischen Heldin Mutter Kim Jong-suk.“ (S.62)

In Nordkorea verbindet sich eine Vielzahl ideologischer Strömungen, die sich mit dem Begriff „Kimilsungismus-Kimjongilismus“ zusammenfassen lassen. Was erst einmal total absurd klingt, erklärt Frank mit dem Verweis auf Konfuzianismus und dem Glauben an das Kollektiv und der Notwendigkeit eines Führers, der das Kollektiv leitet, wodurch der Mensch „Herr über alles“ werde. Es ist sehr interessant zu lesen, wie Frank diese spezielle nordkoreanische Haltung als „frontale[n] Angriff auf Marx“ (S.98) deutet, der immerhin an eine Art „Naturgesetz“ der menschlichen Gesellschaft und ihrer Entwicklung glaubte. Auch wenn ich für einige Kapitel ein bisschen länger gebraucht habe, waren diese grundlegenden Erklärungen der Organisation der nordkoreanischen Gesellschaft sehr spannend zu lesen.

Gut finde ich auch, dass Frank keinesfalls zu wissenschaftlich schreibt, sondern durchaus für die interessierten Leser*innen. Ihm gelingt es, immer wieder eigene Anekdoten und Erlebnisse seiner Reisen einfließen zu lassen. Zudem verdeutlicht er sehr gut, welche Gerüchte über Nordkorea ins Reich der Mythen gehören, scheut sich aber auch nicht, zuzugeben, dass viele Insiderinformationen über das Land auch von ihm nicht überprüfbar sind. Insgesamt hätte ich mir ein paar konkretere Einblicke in das Leben der „normalen“ Menschen gewünscht, allerdings bekommt man diesen Einblick gut durch Barbara Demicks Buch und Frank ist eben Professor für Gesellschaft und Wirtschaft und hat deswegen auch einen klaren Fokus auf wirtschaftliche Entwicklungen, die ich aber dennoch sehr spannend fand. Außerdem gefällt mir gut, dass Frank versucht eine für uns  so unbegreifliche Gesellschaft, die so häufig parodiert wird, weil man sich die Absurditäten des Alltags einfach nicht vorstellen kann, ein wenig begreifbarer zu machen. Ich lese selten Sachbücher, aber wenn ihr euch für Nordkorea interessiert, bekommt ihr mit diesem Buch einen wirklich gelungenen und gut zu lesenden Einblick in dieses abgeschottete Land.

Rüdiger Frank: Nordkorea. Innenansichten eines totalitären Staates. Pantheon 2017.

Wir sehen uns dort oben

Wir sehen uns dort oben II

 

Alles in allem war ja ein Krieg nie etwas anderes als der Versuch einer systematischen Tötung auf einem Kontinent. (S.55)

Die beiden Helden der Geschichte trifft man auf den ersten Seiten im Schützengraben liegend an, es ist Winter 1918 und nur langsam gehen die letzten Wochen bis zum Waffenstillstand im November ins Land. Auf den ersten Seiten des Romans wird der Krieg so brutal und grausam geschildert, wie man es sich nur vorstellen kann. Der Auftakt des Romans bildet die Basis für alle folgenden Entwicklungen, eine verbrecherische Aktion eines Vorgesetzten kettet das Leben von sehr unterschiedlichen Menschen auf ewig zusammen.

Im Wesentlichen geht es um drei Figuren, die schon auf den ersten fünfzig Seiten aufeinandertreffen:  Henri d’Aulnay-Pradelle, Leutnant der französischen Infanterie,  ist der Vorgesetzte des Soldaten Albert Maillard. Er schickt seine Soldaten in einen Kampf, der eigentlich schon gelaufen ist. Albert, ein schüchterner Bankangestellter, der noch nie mit einem Mädchen ausgegangen ist, wird an diesem grauen Novembermorgen in einem Bombentrichter verschüttet. Neben ihm liegt ein verwesender Pferdekopf, um ihn herum ist nur noch Erde und Matsch. Der Tod naht. Nur durch Zufall wird sein aus der Erde ragendes Bajonett von seinem Kameraden Édouard Péricourt entdeckt, der daraufhin beginnt, Albert auszugraben. Weil er gerade dabei ist, seinem Kameraden das Leben zu retten, wird Édouard von einem Granatensplitter getroffen, der ihm das halbe Gesicht wegreißt. Der angehende schwule Künstler, der aus einer einflussreichen Bankerdynastie kommt, wird den Rest seines Lebens mit einem entstellten Gesicht und verschmorten Stimmbändern herumlaufen. Albert und Édouard überleben, sind aber schwer gezeichnet.

Im Lazarett stellt Édouard klar, dass er in seinem Zustand auf keinen Fall nach Hause zurückkehren kann. Lieber stirbt er. Jetzt ergreift Albert die Initiative und kümmert sich aufopferungsvoll um den Verwundeten. Er besorgt ihm sogar eine neue Identität, damit Édouard keinen Gedanken mehr an seine Familie verschwenden muss, der er sich in seinem Zustand auf keinen Fall zeigen kann. Die alten Kameraden bleiben auch nach dem Krieg zusammen – und sind weitestgehend auf sich allein gestellt.  Édouard beginnt sich Masken zu basteln, damit niemand sein entstelltes Gesicht sehen muss.

Man hatte langsam die Nase voll von diesen Helden! Außerdem waren die wirklichen Helden tot! (S.155)

Auf die Kriegsheimkehrer wartet in Paris der gesellschaftliche Untergang. Keine finanzielle Hilfe, also kein Geld für Medizin oder die Miete. Pierre Lemaitre, der zuvor Kriminalgeschichten geschrieben hat, malt ein ziemlich düsteres Bild der französischen Nachkriegsgesellschaft.

Die Zeit, in der die Politiker mit der Hand auf dem Herzen erklärten, der Staat sei ’seinen lieben Frontsoldaten zu Ehre und Dank verpflichtet‘, war längst vorbei. Albert hatte ein offizielles Schreiben erhalten, in dem es hieß, die wirtschaftliche Situation des Landes erlaube es nicht, ihm seine alte Stelle zu geben. Deshalb sei es notwendig, all jene aus dem Dienst zu entlassen, die ‚unserem Land in diesem grausamen Krieg einen bedeutenden Dienst‘ erwiesen hätten und so weiter. (S.158)

Allerdings gibt es einen Mann, der vom Krieg profitiert. Der ehemalige Leutnant Pradelle, der Mitschuld an dem Unglück von Albert und Édouard trägt,  macht das Geschäft seines Lebens mit der Umbettung von Toten durch die Armee auf eigens eingerichtete Soldatenfriedhöfe und wird so zum Millionär. Sein Trick: wenn man die Leichen klein faltet oder wahlweise hackt, kann man die Särge kleiner bauen und so mehr Tote auf einem Friedhof unterbringen. Und wenn man polnische Totengräber anheuert, sind sie günstiger als französische. Außerdem lernt Pradelle eine hübsche Frau kennen, die Geld hat und einen Namen, den er auch gerne hätte. Dass Pradelle dabei ist, in Edouards Familie einzuheiraten, weiß der Leutnant nicht.

Brutal, kaltblütig, kaltherzig, fies, geldgeil – zu Pradelle fallen mir diverse Adjektive ein. Dass die Freunde Albert und Édouard allerdings selbst einen eigenen Coup starten, der Pradelles Unternehmen in den Schatten stellt, ist ein grandioser Streich von Lemaitre, der das Kriegsdrama im zweiten Teil in eine Gaunerkomödie verwandelt (ohnehin weicht die Schwere des Anfangs, die Verstrickungen von Pradelle mit der Schwester von Édouard gehen schon fast ins schlagerfilm-/operettenhafte).

Albert und Édouard planen Kriegsdenkmäler zu verkaufen. Jedes Dorf braucht ein Kriegsdenkmal und der Künstler Édouard malt die Szenen des Krieges so schablonenförmig, wie die Öffentlichkeit sie gerne hätte. Denn wen interessiert schon, wie es wirklich gewesen ist?  In einer Gesellschaft, in der Tote mehr wert sind, als die Überlebenden, eine ziemlich lukrative Angelegenheit.

Pierre Lemaitre ist für den Roman Wir sehen uns dort oben 2013 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet worden, der Roman war ein Bestseller in Frankreich. Kein Wunder, denn die Geschichte über diese besondere Freundschaft von zwei Außenseitern nach dem Ersten Weltkrieg ist grandios auf den Punkt und wirklich mitreißend geschrieben. Absolute Leseempfehlung.

Pierre Lemaitre – Wir sehen uns dort oben. Aus dem Französischen von Antje Peter (Titel der Originalausgabe: Au revoir lá-haut). btb 2017.

Turtles All the Way Down

 You’re both the fire and the water that extinguishes it. You`re the narrator, the protagonist, and the sidekick. You’re the storyteller and the story told. You are somebody’s something, but you are also your you. (S. 257)

Nach dem Riesenerfolg von The fault in our stars (Das Schicksal ist ein mieser Verräter) nahm sich Green viel Zeit für seinen Nachfolger, der auf Deutsch unter dem Titel Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken erschienen ist. Insgesamt sechs Jahre mussten seine Fans auf das neue Buch warten. In Turtles all the way down befinden wir uns in Greens Lieblingsterritorium, das er meiner Meinung nach in jedem seiner Bücher in verschiedenen Variationen wieder aufgreift: im mittleren Westen der USA, der von superintelligenten und nerdigen Teenagern bevölkert wird, die sich mit existentiellen Krisen herumschlagen. Das klingt nicht außergewöhnlich, aber wenn dann noch Star Wars und The Tempest als (pop)kulturelle Referenzen gedroppt werden, schwebe ich schon im Zitatehimmel.

Turtles all the way down

Es geht es um die 16-jährige Aza und ihre Freundin Daisy, die beide in ein großes Abenteuer stolpern. Ein Milliardär aus der Nachbarschaft ist verschwunden (ihr Lieben, es ist ein Jugendbuch!) und Hinweise auf seinen Aufenthaltsort werden mit hunderttausend Dollar belohnt. Die Detektivstory ist eigentlich nur eine Nebensache, denn Aza verliebt sich in den Sohn des Milliardärs, der alleine mit seinem kleinen Bruder auf die Rückkehr seines Vaters wartet. Aza kennt ihn schon seit einem gemeinsamen Sommer im „Sad Camp“ – einem Feriencamp für Kinder, die einen Elternteil verloren haben. Genug Inhalt und Konfliktpotenzial sind also da. Aber Green legt noch eine Schüppe nach.  Aza hat ein großes Problem. Sie leidet an einer Angststörung und Panikattacken. Sobald sie anfängt sich in ihren Gedankenspiralen zu verlieren, kann sie nicht mehr aufhören. Ein komisches Gefühl im Bauch wird für sie gedanklich direkt zu einer Lebensmittelvergiftung mit ungewissem Ausgang. Die einzige Gewissheit, die sie hat, besteht darin, dass alles immer nur noch schlimmer werden kann.

 

I think, You will never be free from this.

I think, You don’t pick your thoughts.

I think, You are dying, and there are bugs inside of you that will eat through your skin.

I think and I think and I think.

 Natürlich ist die Geschichte insgesamt sehr konstruiert. Der Milliardärssohn schreibt Poesie und anonyme Blogposts und interessiert sich für Astrologie (und romantisches Sterne gucken). Auch während sein Vater verschwunden ist, hat er nur Augen für Aza – das ist natürlich alles ein bisschen too much und ein bisschen kitschig. Genau so, wie man es von einem wirklichen guten Green gewohnt ist (oder fandet ihr die Geschichte von Hazel, die krebskrank nach Amsterdam fährt um ihren Lieblingsschriftsteller zu treffen, realistisch? Ja, eben…).

Trotzdem bleibt gerade im Mittelteil das Gefühl zurück, dass sich Green für diesen Roman wirklich sehr viele Themen vorgenommen hat. Die beiden Jungs, die alleine in ihrem Haus leben und mit der Angst um ihren Vater klar kommen müssen, werden von Azas ausführlichen und tragisch-absurden Ängsten in den Hintergrund gerückt. Vielleicht ist das auch ein überzeugendes Argument für diese Konstruktion: Aza ist so sehr in ihrem Kopf gefangen, dass selbst ein so unrealistisch Abenteuer sie nicht von sich selbst und ihren psychischen Zwängen befreien kann. Und auch die große Liebe ist kein Allheilmittel. Insgesamt fand ich den Roman sehr viel düsterer als andere Romane von John Green, auch wenn es ein stimmiges Wohlfühlende gibt (das man nicht mit einem Happy-End/ „Ende gut, alles gut“ verwechseln sollte). Die Dialoge sind umwerfend komisch, Daisy ist eine grandiose Figur (die auch noch Rey- Chewbacca-Liebesfanfiction schreibt – wie genial ist das denn bitte!) und auch die Geschichte, die sich hinter dem Titel des Romans verbirgt, hat mir gut gefallen.

John Green ist auf YouTube ziemlich aktiv und hat auch einen eigenen Kanal, den er zusammen mit seinem Bruder Hank betreibt. Als Vlogbrothers erreichen sie mittlerweile 3 Millionen Abonnent*innen. Zum Erscheinungstermin seines neuen Buches, machte John Green auch in einem Vlog deutlich, dass er persönlich auch von OCD betroffen ist, die sich bei ihm, wie bei seiner Hauptfigur Aza, in ewigen Gedankenspiralen äußert. Sicherlich ein Grund dafür, warum die Probleme der Hauptfigur so sensibel verhandelt werden, ohne die Absurdität der Handlungen der Betroffenen und die Probleme, die sich daraus auch für zwischenmenschliche Beziehungen ergeben, außen vor zu lassen.

Madness, in my admittedly limited experience is accompanied by no superpowers; being mentally unwell doesn’t make you loftily intelligent any more than having the flu does. So I know I should’ve been a brilliant detective or whatever, but in actuality I was one of the least observant people I’d ever met.

Das Ende ist ziemlich positiv, das hatte ich schon gar nicht mehr erwartet. Und die Freundschaft zu Daisy bekommt noch einmal eine neue Dimension, die mich ebenfalls überraschen konnte.

John Green: Turtles all the way down. Dutton Books 2017.

 

 

Wer ist B. Traven?

In Torsten Seiferts Debüt geht es um eine literarische Spurensuche, viele Abenteuer und ein großes Geheimnis.

Wer ist B. Traven

1947. Der junge Reporter Leon bekommt von seinem Chef eine heikle und ziemlich wichtige Aufgabe. Er soll herausfinden, wer der geheimnisvolle Schriftsteller B. Traven ist, ein Mann, um dessen Identität sich seit Jahren viele Mythen und Spekulationen ranken. Das Magazin Life hat schon ein Preisgeld für den Journalisten ausgeschrieben, dem es gelingt, Travens Identität zu enthüllen. Leons Chef will schneller sein als das Konkurrenzblatt und dafür gibt es einen einfachen Grund. In Mexiko wird gerade ein Roman von Traven verfilmt, der Klassiker Der Schatz der Sierra Madre mit Humphrey Bogart in der Hauptrolle. Bevor der Streifen in die Kinos kommt, soll Leon liefern.

Auch wenn ich nicht verstehe, warum die Leute solch ein Gedöns um einen Schriftsteller machen. Sie wollen wissen, wann er aufsteht, wann er frühstückt, ob er trinkt, Golf spielt oder lieber Poker. Es ist ungerecht, dass ein Künstler mehr Beachtung findet als jeder andere, der seine Arbeit tut. (258)

Der Journalist fährt sofort nach Mexiko, denn auch Travens Assistent soll sich am Set befinden. Hinter vorgehaltener Hand wird sogar gemunkelt, der Assistent sei selbst der mysteriöse  Schriftsteller.  Aber statt sich in die Recherche zu stürzen, spielt Leon lieber mit Bogy Schach und macht Bekanntschaft mit einer schönen Frau, die sein Leben auf den Kopf stellt. Als er wieder nach L.A. zurückkehrt, lässt ihn die Suche nach Traven aber einfach nicht los. Leon macht sich wieder auf den Weg, dieses Mal nach Wien.

Torsten Seifert hat einen Abenteuerroman über einen unsteten Schriftsteller geschrieben, der mehrmals sein Leben und seine Namen änderte und dessen letzten Geheimnisse nicht geklärt werden konnten. Traven war ein Schriftsteller, der stets mehr Wert auf seine Anonymität legte, als auf Fans und Starkult um seine Person. Und das ist bemerkenswert. Immerhin hat er 12 Romane geschrieben, die in 24 Sprachen übersetzt wurden (Gesamtauflage: 30 Millionen). Eine bekannte Größe also, könnte man meinen. Aber Traven zog es vor, im Verborgenen zu bleiben. Ich habe den Fehler gemacht, mich im Vorfeld über Traven auf Wikipedia zu informieren – tut das lieber nicht, ihr werdet weniger Spaß an der Geschichte haben.

Neben dem literarischen Rätselraten und einigen Ausschnitten aus Travens Werk, gibt es eine Menge exotische Settings, die ganz im Stil eines klassischen Abenteuerromans unterhalten und auf Grautöne in der Figurenzeichnung (Leon selbst ist da eine große Ausnahme) verzichten. Da gibt es Bordellszenen in Mexico (inklusive eines Wrestlingkampfes) und für Leon eins auf die Nase, aber auch eine traumhafte Bibliothek in Wien. Mich erinnert diese Jagd an Vintage, auch wenn es Hervier gelingt, die Suche etwas eleganter zu gestalten.

Ich habe mir beim Lesen öfter gewünscht, ein Buch von Traven zur Hand zur haben, denn ich glaube, dass Seifert ganz bewusst mit Setting und Stil gespielt hat um eine Nähe zu den Originalen des mysteriösen Schriftstellers herzustellen. Das Ergebnis ist eine ziemlich stimmige und atmosphärische Erzählung geworden, die nach einem fulminanten Auftakt temporeich weiter geht. Habt ihr die Bücher von B. Traven gelesen? Neben dem zu erwartenden Abenteuerfaktor soll sich nämlich auch eine Menge Gesellschaftskritik hinter den Zeilen verbergen, ein Muss für einen politischen Menschen wie Traven, der seine Geschichten auch immer mit einer Kritik an den Ausbeutungsmechanismen des Kapitalismus verknüpfte.

Wer 40er-Jahre Flair liebt und einen spannenden Roman über eines der letzten Geheimnisse der Literaturgeschichte sucht, wird mit Wer ist B. Traven? bestens unterhalten. Herausragende Frauenfiguren gibt es leider nicht, immerhin gibt es die eine geheimnisvolle Dame, die sich noch als kleiner Lichtblick entpuppt. In Anbetracht der vielen handelnden Personen ist dieser Lichtblick allerdings sehr klein. Aber es gibt eine Sexszene in einer katholischen Kirche, das ist immerhin auch ein bisschen Abenteuer.

Noch ein Servicehinweis: Wer ist B. Traven? von Torsten Seifert wurde 2017 zum Siegertitel des Blogbusterpreises gewählt. Aus über 250 Einsendungen haben die 15 Blogger*innen der Jury aus verschiedenen eingesandten Manuskripten eine Auswahl getroffen, die dann wiederum von einer Kritiker*innenjury bewertet wurde.

Torsten Seifert – Wer ist B. Traven? Tropen 2017.

Weitere Rezensionen findet ihr hier:

Ein Gentleman in Moskau

Ein Gentleman in Moskau

Moskau, 1922. Graf Rostov wird vom Revolutionskomitee zu lebenslangem Hausarrest verurteilt, ausgerechnet im Hotel Metropol, dem besten Hotel am Platz. Und das ist sein Glück. Fast wäre er hingerichtet worden, aber ein Gedicht, das er mehrere Jahre zuvor veröffentlicht hat, rettet ihm das Leben.  Das Komitee einigt sich darauf, dass der einst so hellsichtige Geist des Grafen im Kontakt mit der adligen Klasse moralisch korrumpiert wurde. Das kann passieren und soll natürlich laut Komitee angemessen bestraft werden – aber glücklicherweise nicht mit dem Tod.

Der Graf darf nur das Hotel nicht mehr verlassen. Das ist die Ausgangslage für Amor Towles und der Beginn einer ungewöhnlich feinsinnigen Erzählung über das Leben in Gefangenschaft. Genauer gesagt,  in einer jahrzehntelangen Gefangenschaft in einem geschichtsträchtigen Haus, das sich ebenfalls im Wandel der Zeit befindet.

Graf Rostov ist niemand, der unter der Situation leidet oder anfängt, Trübsal zu blasen. Getreu seinem Motto: „Wenn man nicht Herr über seine Umstände ist, so werden die Umstände Herr über einen selbst“, beginnt sich der Graf in seiner Gefangenschaft einzurichten. Er lässt sich durch nichts in seiner Höflichkeit oder seinem Optimismus erschüttern. Von seiner Suite zieht er in eine Dachkammer im obersten Stock, die Hälfte seiner Möbel muss er zurücklassen und noch nicht einmal alle seine Bücher passen in sein neues Zimmer. Aber der Graf bleibt pragmatisch. Wenn er das Hotel nicht mehr verlassen kann, versucht er sich eben den Essays von Michel de Montaigne. Wann hat man schon Zeit dafür, einfach mal zu lesen?

Es war sicherlich zehn Jahre her, dass der Graf sich vorgenommen hatte, dieses in allen Landen gelobte und von seinem Vater hochgeschätzte Werk zu lesen. Aber jedes Mal, wenn er mit dem Finger auf  den Kalender gezeigt und erklärt hatte: Diesen Monat widme ich mich den Essays von Michael de Montaigne, hatte das Leben mit einer teuflischen Verlockung gewirkt. Sei es, dass unerwartet ein Liebesinteresse aufgekommen war, an dem er guten Gewissens nicht vorbeigehen konnte, oder dass sein Bankier angerufen hatte oder dass der Zirkus in die Stadt gekommen war. Das Leben hatte seine Verlockungen, fürwahr. Doch hier waren die Umstände endlich derart, dass sie den Grafen nicht ablenken, sondern ihm im Gegenteil Zeit und Muße schenken würden, so dass er sich dem ganzen Buch widmen konnte. (S.35)

Amor Towles hätte eine unendlich langweile Geschichte geschrieben, wenn es nur um den lesenden Grafen gehen würde. Stattdessen beginnt der Graf bald das Hotel mit anderen Augen zu sehen. Das liegt unter anderem auch an einem besonderen Hotelgast. Die neunjährige Nina schließt Freundschaft mit dem Grafen und zeigt ihm alle geheimen Gänge und Ecken, von denen der Graf noch nicht einmal wusste, dass sie überhaupt existieren.

Immer wieder sind es kleine Begegnungen, die dem Grafen neue Lebensqualität versprechen. Als der Graf beschließt, seinem Leben ein Ende zu setzen, weil er die Situation nach vier Jahren Gefangenschaft nicht mehr aushält, entdeckt er, dass einer der Hausmeister auf dem Dach des Hotels eine Imkerei betreibt. Ein Honigbrot rettet den Abend und der Graf hat einen neuen Freund gefunden.

 Im Laufe der Zeit, gelingt es Graf Rostov, viele wichtige Personen ins Hotel zu manövrieren und mit ihnen Kontakt zu halten: seinen besten Freund Michail, ein Schriftsteller, der anfänglich noch an die sozialistische Revolution glaubt, wichtige Leute vom Geheimdienst, eine berühmte Schauspielerin. Der Graf lässt alle ins Hotel kommen. Als Rostov die Gelegenheit bekommt, als Aushilfskellner einzuspringen, sagt er nicht nein. Wenigstens hat er so das Gefühl, dass er ein bisschen für Ordnung sorgen kann, wenn ihm sonst nur der Blick aus dem Fenster bleibt und das gesellschaftliche Leben an ihm vorbeirauscht.

Aber es ist nicht seine Position als Kellner, die den Grafen für immer verändern wird. Es ist eine neue Rolle, die der Gentleman und Lebemann sich nie hätte träumen lassen. Jahre später kehrt Nina ins Hotel zurück. Sie ist mittlerweile Mutter geworden und überlässt ihre Tochter Sofia der Obhut des Grafen, der immer noch nicht das Metropol verlassen darf. Nina kann sich keinen besseren und sicheren Platz für das Mädchen vorstellen. Der Graf hat mittlerweile viele Freunde gefunden, die Näherin Marina, den Koch Emile, den Kellner Andrei. Sie sind eine Schicksalsgemeinschaft und versuchen politische Verstrickungen so gut es geht außerhalb des Hotels zu lassen. Aber das ist mit einem unter Hausarrest stehenden Grafen natürlich nicht so einfach. Gemeinsam versuchen sie Sofia eine schöne Kindheit zu ermöglichen. Wenn auch eine Kindheit in einem goldenen Käfig. Aber für Sofia wächst der Graf über sich hinaus.

Ich habe mich sehr gut unterhalten gefühlt, nicht nur, weil Graf Rostov eine Figur mit sehr viel Haltung und Charme ist, auch weil der Roman meisterhaft geschrieben ist. Amor Towles hat eine Geschichte über Mut und Courage geschrieben und darüber, dass man nie aufgeben sollte, sondern viele Situationen mit stoischem Optimismus ertragen kann. Man muss nur auf den richtigen Moment warten – und der kommt bestimmt.

Amor Towles – Ein Gentleman in Moskau. Aus dem amerikanischen Englisch von Susanne Höbel. List 2017.

Der Preis, den man zahlt

Der Preis den man zahltSiegen Loyalität und Liebe oder Verrat und Gewalt? Der Preis, den man zahlt ist der Auftakt einer Reihe um den Spion Lorenzo Falcó. Vor einer historischen Kulisse setzt der spanische Autor Arturo Pérez-Reverte eine spannende Agentenstory in Szene.

„So ein Krieg ist ein echtes Spektakel“, sagte sie. (S.167)

Der Spion und Frauenheld Lorenzo Falcó steht vor dem vermeintlich wichtigsten Auftrag seines Lebens. Die Handlung spielt im Jahr 1936. Er erhält den Auftrag, in Alicante einen hochrangigen politischen Gefangenen zu befreien. Die Aktion ist so wichtig, dass sie sogar als kriegsentscheidend eingestuft wird. Obwohl Lorenzo Falcó eigentlich als einsamer Wolf unterwegs ist und gerne alleine arbeitet, muss er in diesem Fall seine Solopläne auf Eis legen. Um den politischen Gefangenen aus dem Gefängnis zu befreien, hat Falcó die Aufgabe, sich einer Gruppe junger Falangist_innen anzuschließen. Unter ihnen ist auch Eva Rengel, eine undurchsichtige Frau, deren Motive auch innerhalb der Gruppe nicht klar zu deuten sind.

Falcó hat für sich eine klare Rolle in dem Spiel der Geheimdienste und Kriegsparteien gefunden. Er ist sich selbst der nächste und hat keine politischen Überzeugungen.

Sollten sie doch töten oder sterben, sie mochten schon wissen, warum und wofür. Ob aus Dummheit, Bosheit oder ehrbaren Beweggründen. Lorenzo Falcos Krieg war ein anderer, und die Seiten waren klar definiert: hier er selbst, dort alle anderen. (S.103)

Trotzdem gilt er in der faschistischen Gruppe als Mann mit Erfahrung. Die anderen sind jung und naiv und haben zum Teil noch nie eine Waffe gehalten. Aber sie bringen eine Menge Fanatismus, Radikalität und jugendlichen Übermut mit. Falcó beginnt schon bald an der realistischen Durchführbarkeit der Aktion zu zweifeln. Eva kann ihn allerdings beeindrucken. Sie ist mutig, besonnen und in der Lage ohne mit der Wimper zu zucken, jemanden hinzurichten. Eine Frau, die Falcó nicht vergessen kann.

Niemand in der Gruppe kennt seine Mitstreiter_innen genau, aber für die Befreiungsaktion muss man sich auf die anderen verlassen können. In diesem gefühlsmäßigen Chaos kommen Eva Rengel und Falcó Lorenzo sich nahe. Und die Aktionen im Untergrund sind nach wie vor gefährlich.

Bis die Befreiungsaktion durchgeführt werden kann, hat Deutschland allerdings schon General Franco anerkannt – niemand weiß, wie sich diese Situation auf die inneren Ränkespiele innerhalb der Falange auswirken kann. Ein weiteres Risiko für Falcó, der sich zu fragen beginnt, warum ausgerechnet er für diese Mission eingesetzt wurde.

Dass Falcó so ein harter Kerl ist, wird leider an der einen oder anderen Stelle überbetont.  Wenn er die Frau des deutschen Botschafters verführt, die „blonde Walküre“ Greta, und er beim Anblick ihrer großen und „schwer wogenden“ Brüste an „Wagner-Musik“ denkt, nun ja, dann muss ich leider wirklich lachen. Aber gut, auch ich habe wirklich verstanden, dass Falcó ein sehr harter Mann ist, dem sich die Damenwelt nicht entziehen kann. Während Falcos Spionagegeschichte wirklich geschickt konstruiert wird, verhält es sich also mit der Rolle des Charmeurs und geschickten Verführers dann eher holzhammerig.

Der Preis, den man zahlt ist insgesamt ein spannender und gut gemachter Spionagethriller. Falcó wirkt zunächst wie eine absolut pragmatische Figur, die nur an sich selbst denkt. Er ist geschickt darin, seinen Job zu erledigen und legt eine Menge Chauvinismus an den Tag – bis er sich in Eva verliebt. Eva ist eine Figur, die lange ein Rätsel bleibt. Es gefällt mir, dass alle Beteiligten in dieser rasanten Spionagegeschichte ein Doppelspiel treiben. Es bleibt daher von Anfang bis zum Ende spannend.

Auch die geschichtlichen Hintergründe sind fantastisch recherchiert und geben Einblicke in den spanischen Bürgerkrieg. Ein absoluter Pluspunkt, aber auch nicht überraschend. Bevor Perez-Reverte zu einem der erfolgreichsten Schriftseller Spaniens wurde, arbeitete er 21 Jahre lang als Kriegsreporter. Vielleicht erklärt sein vorheriger Job auch, warum einige Verhörszenen so brutal und detailreich geschildert werden. Das war mir definitiv zu viel und hätte für mich nicht sein müssen.

Arturo Pérez-Reverte: Der Preis, den man zahlt. Aus dem Spanischen von Petra Zickmann. Insel Verlag Berlin 2017. 295 Seiten.

Ich habe den Roman bei vorablesen.de gewonnen. Vielen Dank!

 

 

 

Die Geschichte der Bienen

Wenn die Biene einmal von der Erde verschwindet, hat der Mensch nur noch vier Jahre zu leben. Keine Bienen mehr, keine Bestäubung mehr, keine Pflanzen mehr, keine Tiere mehr, kein Mensch mehr.

Albert Einstein

Seit vielen Jahren wird bereits vor dem Bienensterben gewarnt. Erst letzte Woche hat Sarah Wiener, die vor allen Dingen als TV-Köchin bekannt ist, eine Petition gegen das Bienensterben gestartet. Und die Zahlen sind tatsächlich erschreckend. 1990 gab es noch 1,1 Millionen Honigbienen in Deutschland, mittlerweile sind es noch 700 000 Bienen.

Die geschichte der bienenDie Norwegerin Maja Lunde  macht in ihrem internationalen Bestseller Die Geschichte der Bienen das Bienensterben und die Folgen für Mensch und Umwelt zum Thema. Aber es geht nicht nur um Bienen. Die Osloerin, die bereits zahlreiche erfolgreiche Kinder- und Jugendbücher schrieb, erzählt die Geschichte von drei unterschiedlichen Menschen, die in verschiedenen Epochen und auf unterschiedlichen Kontinenten leben und deren Schicksal durch die kleinen Insekten entscheidend mitbestimmt wird.

Zum einen gibt es den Samenhändler und Bienenforscher William Savage aus England. William hatte eigentlich vor, eine Karriere als Naturforscher zu beginnen. Aber sein Mentor glaubt nicht mehr an ihn und als Familienvater muss er dafür sorgen, dass seine Kinder und seine Frau einigermaßen versorgt sind. Das gelingt ihm mehr schlecht als recht, sein Laden läuft nicht, in der Forschung fühlt er sich verloren. Schwermütig liegt er tagelang im Bett und hofft wenigstens seinen ältesten Sohn Edward für eine naturwissenschaftliche Karriere erwärmen zu können. Aber Edward denkt nicht einmal daran, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Für den Vater überraschend, kann sich Williams Tochter Charlotte für die Forschung ihres Vaters begeistern. Gemeinsam basteln sie an einem Bienenstock, der es den Imkern erleichtern soll, den Honig zu ernten, ohne die Bienen zu gefährden. Die Bienen könnten stattdessen domestiziert werden, wie andere Nutztiere. William glaubt, am Höhepunkt seiner Forschung angekommen zu sein.

Ich fing mit Skizzen an, leichte Kohlestriche auf dem Papier, ungenauer Größenangaben, (…) und allmählich nahm er vor meinen Augen Form an, wurde deutlicher, die Striche wurden präziser, die Maße genauer. Und endlich, am 21. Tag, war der Bienenstock fertig.

Dann gibt es den Imker George, der in Ohio daran arbeitet, seinen Hof zu vergrößern. Wie viele seiner Kolleg*innen reist er mit seinen Bienen durch das Land, damit sie die Blüten bestäuben. Anders als seine Kolleg*innen versucht George alles, damit sich die Bienen wohl fühlen, damit sie nicht gestresst sind. Irgendwann soll sein Sohn die Farm und die Bienenstöcke übernehmen. Aber Tom hat kein Interesse an den Bienen, sondern möchte Journalist werden. Der Schock ist groß, als George zu den ersten Farmer*innen gehört, die 2007 vom Colony Collapse Disorder bedroht sind, einem spontanen Bienensterben, das viele Imker überraschend traf. Georges Existenz steht vor dem Aus – soll er weitermachen oder die Imkerei aufgeben?

Eine der spannendsten und eindrücklichsten Figuren ist die Arbeiterin Tao. Sie lebt im Jahr 2098 in China und bestäubt Blüten mit der Hand, weil es mittlerweile kaum noch Bienen oder andere Insekten auf der Welt gibt.

Jetzt summte aus Richtung des Waldes eine Fliege heran, ein seltener Anblick, sowie ich schon seit Tagen keine Vögel mehr gesehen hatte, auch sie waren weniger geworden. Sie machten Jagd auf die wenigen Insekten, die es noch gab, und hungerten ansonsten wie der Rest der Welt auch.

Bei einem Ausflug mit ihrem Mann Kuon und ihrem Sohn Wei-Wen kommt es zu einem Zwischenfall. Ihr Sohn wird nach Peking in ein Krankenhaus gebracht, aber niemand erklärt den Eltern, was passiert ist. Tao fährt nach Peking – in eine Stadt, die aufgrund der Nahrungsmittelknappheit fast ausgestorben ist und versucht ihren Sohn zu finden.

In jeder Episode, die um die Hauptfiguren William, George und Tao kreist, geht es um das Verhältnis der Menschen zu den Bienen. Maja Lunde zeigt anhand ihrer unterschiedlichen Figuren, welche Folgen das Bienensterben haben kann und in der Episode um Tao auch die globalen Folgen dieser Katastrophe. Das ist ein spannender Aspekt, der besonders in Taos Geschichte eine wichtige Rolle spielt. Aber es werden nicht nur bestehende Probleme fiktionalisiert und auf den Punkt gebracht. In allen drei Episoden spielen auch immer wieder Familien und  die Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern eine wichtige Rolle.

Die Geschichte der Bienen ist thematisch aktueller, als sicherlich die meisten von uns denken. Ich habe vor Kurzem den Dokumentarfilm More than Honey auf Netflix gesehen, den Maja Lunde auch als Inspirationsquelle im Nachwort nennt. Insofern ist es wirklich grandios, wie gekonnt Maja Lunde dieses wichtige Thema aufgreift. Ansonsten ist der Roman sehr klassisch konstruiert, es gibt keine Überraschungen, die sich irgendwo verbergen, keine doppelten Böden, keine ungeklärten Fragen, Formulierungen oder Wendungen, die einer besonderen Interpretation bedürfen.

Die Geschichte der Bienen ist eine unterhaltsame, spannende und wirklich gut gemachte Familiengeschichte, in der das Leben und Sterben der Bienen das verbindende Element zwischen ganz unterschiedlichen Figuren ist. Für mich ist Die Geschichte der Bienen ein Sommer-, Strand- und Urlaubsbuch, das mir sehr viel Spaß gemacht hat.

Maja Lunde – Die Geschichte der Bienen. Aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein. btb 2017. 508 Seiten.

Ich habe den Roman als Rezensionsexemplar vom Bloggerportal angefordert.

Vielen Dank!

Weitere Rezensionen findet ihr hier:

Das Ministerium des äußersten Glücks

Arundhati Roys Roman Das Ministerium des äußersten Glücks ist endlich auch auf Deutsch erhältlich. Nachdem sie für ihr Debüt Der Gott der kleinen Dinge 1997 den Man-Booker-Preis gewann, blieb es zunächst still um die Autorin. Zumindest im Bereich der Belletristik. Sie schrieb stattdessen politische Essays und war als Aktivistin mit unterschiedlichen sozialen und umweltpolitischen Themen beschäftigt. Auch deshalb musste sie immer wieder fürchten, verhaftet zu werden. Ich wollte das neue Buch von Arundhati Roy sofort lesen, denn Der Gott der kleinen Dinge ist eines meiner Lieblingsbücher. Aber ich habe doch ein bisschen länger für die knapp 550 Seiten gebraucht, als ich anfangs gedacht habe…

Es hatte mit der Art und Weise zu tun, wie sie lebte, als wäre sie ihr eigenes Land, ein Land, das keine Visa ausstellte und keine Konsulate zu haben schien. Wohl war, es war nie ein besonders freundliches Land gewesen, selbst in den besten Zeiten nicht. (S.276)

Roy IJede Nacht schläft Anjum zwischen zwei unterschiedlichen Gräbern. Sie rollt sich ihre Schlafmatte aus und schafft sich einen Platz an einem Ort, der für Menschen wie sie, wie geschaffen ist. Anjum sagt über sich selbst, sie sei eine „mehfil, ich bin eine Versammlung von allem und niemand, von allen und nichts“. Anjum ist ein transidentitärer Mensch, aufgewachsen als Junge, geflohen vor der Familie, findet sie irgendwann das Haus der Träume, einem Ort für Hijras.  Mittlerweile lebt sie auf einem Friedhof. In Indien werden intersexuelle Menschen so bezeichnet. Man erkennt sie schon von weitem, die meisten Menschen haben Angst vor ihnen, denn sie sind von den Göttern auserwählt und laut Aberglauben dazu in der Lage, andere zu verfluchen. Anjum hat eine schlimme Vergangenheit hinter sich, aber trotz ihrer traumatischen Erlebnisse schafft sie sich einen Ort, der ohne Grenzen und Gewalt ein friedliches Miteinander möglich macht. Ihr Ministerium des äußersten Glücks, in dem auch schon mal Shakespeare zitiert wird, ist ein Ruhepol in einem Land, das auch von kriegerischen Konflikten nicht verschont bleibt.

Normalität in unserem Teil der Welt ist so etwas wie ein weichgekochtes Ei: Seine langweilige Oberfläche verbirgt zuinnerst einen Dotter von ungeheuerlicher Gewalttätigkeit. Es ist unsere ständige Angst vor dieser Gewalttätigkeit, unsere Erinnerungen an ihre vergangenen Werke und das Grauen vor ihren zukünftigen Manifestationen, die die Regeln niederlegen, wie ein so komplexes und heterogenes Volk, wie wir es sind, weiterhin koexistieren kann – weiterhin zusammenleben, einander tolerieren und von Zeit zu Zeit einander abschlachten kann. Solange die Mitte hält, solange der Dotter nicht ausläuft, ist alles in Ordnung. (S.195)

Der Roman dreht sich nicht nur um Anjum, die den Ort für alle erschaffen kann, die nach ein bisschen Glück suchen. Es gibt den jungen Saddam Hussein, der sich so genannt hat, weil ihn die würdevolle Haltung des Diktators vor seiner Hinrichtung beeindruckt hat. Er findet relativ schnell einen Weg zu Anjum. Aber dann gibt es noch ein anderes Quartett, dessen Beziehungen so komplex und verwirrend sind, wie der Konflikt um die Region Kaschmir. Seit 1947, im Zusammenhang mit der Unabhängigkeit Indiens, schwelt der Konflikt zwischen Pakistan und Indien um die Region Kaschmir, neben territorialen Ansprüchen geht es immer auch um religiöse Differenzen zwischen Hindus und Muslimen.

Im Ministerium des äußersten Glücks geht es neben Anjum um vier Freunde, die alle von den Konflikten innerhalb der Gesellschaft bedroht sind und ihre eigenen Schlüsse aus diesen Bedrohungen ziehen. Zum einen Naga, ein Journalist und Agent, dann der Kashmiri Musa, der sich in den Konflikt um sein Land einmischt, seine Geliebte, die Architektin Tilo und der Ich-Erzähler, der selbst einmal ein Agent gewesen ist. An der Universität haben sie sich in einer Theatergruppe kennen gelernt und auch in der Gegenwart sind ihre Schicksale miteinander verknüpft. Besonders Tilo ist eine Figur, die sehr viel erlebt hat und die ich auch nach Ende des Buches nicht vergessen kann. Sie heiratet Naga und nicht ihren Geliebten Musa, vielleicht weil sie Schutz braucht, aber „ein weniger großzügiger Mensch würde behaupten, weil sie ein Versteck brauchte“ (S.276) Die Wege der Figuren kreuzen sich wieder, spätestens dann, als ein Baby gefunden wird.

Es ist für mich sehr schnell deutlich geworden, dass Roy viele Themen, die sie in ihren politischen Essays aufgreift, auch als Hintergrund in den Roman einfließen lässt. Das erfordert eine Menge Konzentration und hin und wieder mal einen guten Wikipedia-Eintrag (und der Wikipedia-Eintrag zum Kaschmirkonflikt ist das leider nicht). Anders als Der Gott der kleinen Dinge ist Das Ministerium des äußersten Glücks sicherlich nicht so leicht zugänglich. Trotzdem lohnt sich die Auseinandersetzung mit diesem Buch. Die Figuren sind fantastisch, in jedem Nebensatz steckt noch eine Geschichte, die nur in diesem Moment nicht erzählt wird. Manchmal weiß man nicht genau, ob eine Geschichte stimmt. Häufig treffen sich Menschen im Roman und erzählen sich davon, was anderen passiert sein soll oder was ihnen passiert ist. Vieles wirkt im ersten Moment diffus, weil viele Dinge nicht sofort angesprochen werden.

Das Ministerium des äußersten Glücks ist ein bewegender Indienroman, der sehr viel Zeit braucht und auch sehr viel Geduld von seinen Leser*innen fordert. Das hängt auch damit zusammen , dass sich viele Perspektivwechsel und Zusammenhänge zwischen den Figuren und ihren Geschichten oft erst einige Seiten später klären – aber dafür mit einer unglaublichen poetischen und erzählerischen Wucht. Die Konstruktion der Geschichte ist beeindruckend, die sprachliche Gestaltung fantastisch. Roy lässt nicht zu, dass ihre Figuren ermordet werden – sie werden „gefaltet“. Und das ist nur ein Beispiel von vielen poetischen Wendungen, die sich im Text verstecken, die man zunächst überliest und die dann doch nachhaltig im Gedächtnis bleiben.

Wie erzählt man eine zerbrochene Geschichte? Indem man sich langsam in alle verwandelt. Nein. Indem man sich langsam in alles verwandelt. (S.540)

Es sind auch viele Nebenfiguren, die mir im Gedächtnis bleiben werden. Figuren, die ich beim ersten Lesen als lächerlich oder verrückt empfunden habe und Seiten später erfährt man dann, dass diese Figur einen Angriff auf das eigene Dorf überlebt hat, bei dem viele andere hingerichtet wurden. Da kommen Listen, Träume, unvollständige Erzählungen des Ich-Erzählers und Zeugenaussagen zusammen, um ganz langsam ein Bild von Indien in der Gegenwart entstehen zu lassen, das mich sehr beeindruckt hat. Und neben allen schrecklichen und erschütternden Bildern, die Arundhati Roy zeichnet, bleibt am Ende doch noch ein kleiner Ort des Glücks bestehen. Ausgerechnet auf einem Friedhof.

Arundhati Roy – Das Ministerium des äußersten Glücks (The Ministry of Utmost Happiness). Aus dem Englischen von Anette Gruber. S. Fischer Verlag 2017.

560 Seiten.

Ich habe den Roman im Rahmen einer Leserunde bei Lovelybooks gewonnen.

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The Hate U give

Wenn ihr in diesem Sommer Zeit für nur ein Jugendbuch habt (zum Beispiel, weil ihr gar keine Jugendbücher lest oder diese nur im Sommer lest oder überhaupt zu wenig Zeit zum Lesen habt – Gründe gibt es viele) – dann lest The Hate U give von Angie Thomas. Punkt.

The Hate U give.jpg

Starr ist 16 Jahre alt und hat endlich eine Balance für die unterschiedlichen Welten gefunden, in denen sie lebt. Einerseits ist da das schwarze* Problemviertel, in dem sie aufgewachsen ist und mit ihrer Familie lebt und andererseits das weiße* Viertel, in dem ihre Privatschule steht und sie als „Quotenschwarze“ gilt. Ihre Mitschüler*innen reden gerne vom „Ghetto“, wenn sie über Starrs Viertel sprechen – die meisten von ihnen waren noch nie dort. Starr hat sich daran gewöhnt, dass die beiden Welten nicht miteinander vereinbar sind.

Starrs Leben ändert sich mit einem Schlag, als ihr bester Freund Khalil von einem Polizisten bei einer Routinekontrolle seines Fahrzeugs erschossen wird. Khalil war unbewaffnet. Landesweit berichten die Medien über Khalils Tod. Viele stempeln ihn als Drogendealer ab, andere protestieren in seinem Namen gegen Polizeigewalt. Die Polizei und die Gangs des Viertels fangen an Druck auf Starrs Familie auszuüben, denn Starr saß im Auto und ist die einzige Zeugin des Vorfalls…

They probably heard me crying. Great. What’s worse than being the Angry Black Girl? The Weak Black Girl.  (S.116)

Angie Thomas hat ein Buch geschrieben, das wirklich jede_r lesen sollte. Es geht um Alltagsrassismus, Racial Profiling und rassistische Polizeigewalt und fiktionalisiert so Ereignisse, die 2013 unter dem Hashtag #BlackLivesMatter auf Twitter und verschiedenen SocialMedia-Kanälen thematisiert wurden.

Neben vielen anderen Fällen von rassistischer Polizeigewalt, sorgten drei Todesfälle in den Jahren 2013 und 2014 für Aufsehen. 2013 wurde der 17-jährige Trayvon Martin in Californien von dem Nachbarschaftswachtmann George Zimmermann erschossen. Zimmerman behauptete, er habe in Notwehr gehandelt, als er den am Boden liegenden Jugendlichen erschossen habe. Trayvon war unbewaffnet. Zimmerman wurde freigesprochen.

 2014 wurde der 18-jährige Michael Brown von dem weißen* Polizisten Darren Wilson in Ferguson, Missouri, erschossen. Brown war unbewaffnet, Wilson feuerte insgesamt zwölf Schüsse auf den Jugendlichen ab. Einige Zeugen sagen, Brown habe sich „bedrohlich“ auf den Polizisten zubewegt. Als die Grand Jury entscheidet, dass es kein Verfahren geben soll, kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen in Ferguson.

 Im selben Jahr stirbt der 43-jährige schwarze* Michael Garner bei einer gewaltsamen Polizeiaktion in New York. Garner wurde von der Polizei verdächtigt, illegal Zigarretten zu verkaufen. Garner verneinte das und wehrte sich gegen eine körperliche Untersuchung, daraufhin wird er von dem Polizisten Daniel Pantaleo in einen (für Einsatzkräfte eigentlich verbotenen) Würgegriff genommen. Obwohl Garner, der an Asthma litt, mehrmals rief, dass er nicht atmen könne, warfen mehrere Polizisten den Mann zu Boden und behielten ihn im Würgegriff. Garner starb vor Ort. Keiner der anwesenden Polizisten hat auch nur versucht, Garner wiederzubeleben. Die Grand Jury klagte die Polizisten nicht an.

In diesem gesellschaftlichen Klima beginnt Angie Thomas, die in Mississipi lebt und Creative Writing studiert hat, ihren Debütroman zu schreiben, der aktueller nicht sein kann und zum Bestseller wird. Inspiration für den Titel ist für die ehemalige Rapperin der Musiker Tupac Shakur (1971-1996), der auch für die Figur Khalil einen Heldenstatus inne hat. 2Pac war Mitglied der HipHop-Gruppe Thug Life und hat in seiner kurzen Musikkarriere über 75 Millionen Alben verkauft. Im Amerikanischen Slang werden Kriminelle häufig als Thugs bezeichnet. Tupac deutet den Begriff Thug Life für sich um.

„Listen! The Hate U – the Letter U – Give Little Infants Fucks Everybody. T-H-U-G L-I-F-E. Meaning what society gives us as youth, it bites them in the ass when we wild out. Get it?“ (S.21)

Starr muss sich nach dem Tod von Khalil nicht nur mit ihren besorgten Eltern herumschlagen. Sie hat selbst Angst vor der Polizei und Angst davor, wie es mit den Kings (den Gangchefs ihres Viertels) weiter geht. Nach Khalils Tod ändert sich ihr Leben. Vieles, was für sie selbstverständlich war, ist es nicht mehr. In ihrer Schule weiß niemand was vorgefallen ist. Starrs neue Wachsamkeit für die eigene Situation führt auch dazu, dass sie anfängt, ihr eigenes Leben zwischen den verschiedenen Welten zu hinterfragen.

The Hate U give ist ein Roman, den man so schnell nicht vergisst. Weil er wahr ist und weh tut. Thematisiert werden race, identity, Freundschaft, Liebe und besonders das gesellschaftliche Klima, das in den USA herrscht. Angie Thomas zeigt die konkreten und tödlichen Folgen von Vorurteilen und Rassismus und macht so Alltagsrassismus greifbar – auch für Weiße* Menschen wie mich, die diese Diskriminierung – zum Glück – nie erleben mussten. Zum Schluss möchte ich noch John Green zitieren, denn das kann nie verkehrt sein: „Angie Thomas has written a stunning, brilliant, gut-wrenching novel that will be remembered as a classic of our time.“ The Hate U give hat eine Menge Potenzial zum modernen Klassiker zu werden. Lest dieses Buch.

 Angie Thomas: The Hate U give. Walker Books 2017.

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