Das ist also unsere Gerechtigkeitsfabrik. Am Ende hoher, höhlenartiger Zimmer sitzen Richter wie Grottenolme auf Papierbergen, jeder für sich. Nach drei Wochen Aktenwühlerei fragte Thirza Frau Meindl nach den offenen Verfahren der beiden Kollegen und erhielt die Antwort: hundertdreißig und hundertfünfundvierzig.
(S. 101)
Thirza Zorniger hat es nicht leicht und hatte es nie leicht. Ihr Vater, ein erfolgreicher Schauspieler, hat die Familie verlassen. Die kleine Thirza kommt zu ihrem Großvater und zwei Tanten nach München. Hauptsache, sie funktioniert und macht keine großen Schwierigkeiten. Bei ihrem Großvater findet sie zwar stabile Verhältnisse, aber auch eine klare Vorstellung davon, wie das Leben zu sein hat. Als Thirza, genau wie der Großvater, Juristin werden möchte, bricht dieser in Gelächter aus. Ihr Großvater kann sich nicht vorstellen, dass Thirza in dieser Männerwelt bestehen kann. Die unaufgearbeitete Rolle des Großvaters während des Nationalsozialismus schwebt wie ein dunkler Schatten über der Geschichte.
Thirza kämpft und will allen das Gegenteil beweisen. Sie beißt sich durch ihr Studium und gibt nicht auf, bis sie selbst eine Robe tragen darf. Sie wird Staatsanwältin, Richterin am Amtsgericht, dann am Landgericht, zum Schluss Vorsitzende einer Zivilkammer. Der Erfolg fällt Thirza nicht in den Schoss, sie gibt alles dafür. Allein, ihr Privatleben bleibt dabei auf der Strecke. Thirza ist auch in ihrer Freizeit eher Grottenolm. Sie fährt alleine in den Urlaub und manchmal geht sie sogar während ihres Urlaubs ins Gericht, so sieht Arbeitshaltung aus. Freunde hat sie kaum, diejenigen, die sie hat, sind ebenfalls Juristen. Thirza glaubt lange Zeit, dass diese Einsamkeit zu ihrem Leben dazu gehört. Der Justizpalast in München ist ihre Wirkungsstätte, die Fälle, mit denen sie zu tun hat, wirken mitunter erschreckend dröge und sehr echt.
Kein Wunder, denn Petra Morsbach hat mit über 50 Jurist*innen gesprochen und so Einblicke in den Arbeitsalltag am Gericht erhalten. Der Aktenstau, die offenen Verfahren, das Gefühl, den Geschädigten häufig nicht einmal Recht zuteil werden zu lassen – diese Aspekte des Richterberufs erfasst Morsbach klar und unglaublich präzise. Die kauzigen, arroganten, weisen und zum Teil überraschend leidenschaftlichen Jurist*innen, denen Thirza begegnet, haben eins gemeinsam: ihr Zuhause ist der Justizpalast. Thirza, ein funktionierendes Rädchen im Getriebe, gibt ihr Bestes und doch ist das häufig nicht genug. Mindestens 100 Fälle aus Thirzas Alltag werden den Leser*innen auf den knapp 500 Seiten präsentiert. Die steinreiche Millionenerbin, die um ein paar tausend Euro vor Gericht kämpft, ist genau so teil dieser illustren Sammlung von Fällen wie die Nachbarn, die sich darüber in die Haare kriegen, dass die Bäume ein paar Zentimeter gekürzt werden sollen. Das ist mal traurig, mal skurril (eine Frau verliert ihren Mann durch einen Wal, nun ja, solche Dinge passieren), manchmal eben auch etwas trocken zu lesen.
Startet Thirza noch voller Elan und Idealismus in ihre Karriere, wird ihr spätestens als Richterin klar, dass erfolgreiche Strafprozesse nach vier goldenen Regeln ablaufen. Erstens, Vergleiche sind das A und O, zweitens, am besten niemand klagt, drittens, wird ein Urteil aufgehoben, hat irgendeine richterliche Instanz versagt, weil das Urteil nicht hieb-und stichfest begründet wurde und viertens, Recht und Gerechtigkeit sind zwei Paar Schuhe. Das Privatleben steht in starkem Kontrast zu dieser Welt der Akten und nicht immer gerechten Urteile. Nach einigen gescheiterten Versuchen findet Thirza mit Max dann doch das große Glück – wenn auch nicht für die Ewigkeit.
Morsbach hat einen herrlichen selbstironischen Stil, den man leicht überlesen kann. Thirza sagt zum Beispiel, sie als Hauptfigur, dürfe jetzt ohne Weiteres das Thema wechseln. Und als Thirza einmal ein Buch in die Hand nimmt, legt sie es mit den Worten: „Morsbach, keine Ahnung, was daran komisch sein soll“ wieder weg.
Hat man den Roman gelesen, hat man auch als juristischer Laie das Gefühl, irgendwie ein bisschen mehr verstanden zu haben. Davon wie Gesetze und das Justizsystem funktionieren und leider auch davon, wie Richter*innen, Sachbearbeiter*innen und alle Beamt*innen des Justizapparates leicht von dieser großen Aufgabe zerrieben werden können. Denn da Recht und Gerechtigkeit nicht immer zusammen fallen, kann es häufig nur eine Annäherung an ein vermeintlich gerechtes Urteil geben. Gerade deshalb ließ mich der Roman zum Ende hin, sehr melancholisch werden. Misst sich das Können eines Richters an seinen gnadenlosen Urteilen, seinem Einfühlungsvermögen oder seinem Bearbeitungseifer, wenn es um offene Verfahren geht?
Als Petra Morsbach Anfang des Jahres in Bremerhaven war und bei der Literarischen Woche aus ihrem Roman Justizpalast las, war ich sofort begeistert und wollte den Roman unbedingt lesen. Mein erster Eindruck hat mich nicht getäuscht, der Roman ist toll. Im Gespräch, das sich der Lesung anschloss, erzählte Petra Morsbach, dass sie zehn Jahre für diesen Roman recherchiert habe. In einer heißen Phase, mietete sie sich eine Kabine auf einem Frachtschiff und schrieb ihren Roman auf hoher See, denn dort konnte sie nichts von ihrer Geschichte ablenken. Der Aufwand hat sich gelohnt. Für Justizpalast hat Morsbach den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2017 erhalten.
Petra Morsbach: Justizpalast. Knaus 2017.
Ich habe den Roman als Rezensionsexemplar vom Bloggerportal erhalten. Vielen Dank!
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