Buchreihen sind die besten Serien. Man kann sie viel länger genießen als einen kurzen Roman. Man kann eintauchen und Seite für Seite eine Welt entdecken und Protagonist_innen begleiten, die man bereits seit langer Zeit kennt. Kein Wunder, dass ich regelmäßig die Harry Potter Romane im Bücherregal streichle.
Die Reihe Flavia de Luce hat für mich ähnliches Suchtpotenzial wie Hermine und Co. Alan Bradley hat nicht nur eine sympathische, wahnsinnig schlaue 11-jährige geschaffen, die sich für Chemie interessiert und Madame Curie in den Schatten stellt, er hat auch ein geniales Setting aufs Papier gezaubert. Flavia wohnt im alten Anwesen Buckshaw, dessen verlassene Räume so verlassen sind, dass anfänglich noch nicht einmal alle Hausbewohner wissen, dass Flavia ein eigenes Laboratorium eingerichtet hat. Die de Luces haben eine lange und geheimnisvolle Ahnenreihe, aber natürlich kein Geld und wie es sich für verarmte Adlige mit einem Mindestmaß an Standesdünkel gehört, trotzdem eine Köchin und Dogger, der im Haus hilft. Flavias Fahrrad heißt Gladys und wenn sie von ihren fiesen Schwestern geärgert wurde, schwingt sie sich aufs Rad und fährt durch Bishop’s Lacey, ihrem Heimatort. Dabei beobachtet sie sehr viel mehr als die Erwachsenen glauben und da kleine Mädchen gerne unterschätzt werden, nutzt Flavia jede Chance, die sich bietet um in den zahlreichen Kriminalfällen zu ermitteln, die ihr seit mittlerweile sieben Bänden vor die Nase purzeln.
Im neuesten Band ist es direkt eine Leiche, die Flavia aus dem Schornstein entgegenfällt. Eingewickelt in einen Union Jack, verkohlt und verschmort. Dabei hat Flavia gerade erst ihre neue Mitbewohnerin kennen gelernt. Flavia ist nicht mehr auf Buckshaw, aber das Verbrechen schläft bekanntlich nie.
Grundsätzlich gilt, dass man, wenn man eine Leiche findet, den Luxus genießt, sie sich in aller Ruhe anzuschauen, bevor eine Horde Polizisten auf den Schauplatz getrampelt kommt wie eine Herde Rindviecher, die ein Picknick ruiniert. Aber eben nicht jedes Mal – und das hier war eines jener anderen Male. Ich hatte alles gesehen, was ich je zu sehen bekommen würde. Was es an Sachbeweisen auch geben mochte, ich hatte alles bereits im Kopf. (S.57)
Ziemlich abgebrüht für eine Zwölfjährige, aber Flavia hat schon einiges gesehen und kennt sich ziemlich gut aus. Kein Wunder, dass sie normalerweise diejenige ist, die der Polizei Ermittlungstipps gibt. Aber im neuen Band der Reihe ist Flavia nicht mehr in Bishop’s Lacey und vieles läuft anders als gewohnt.
Flavia ist von ihrer Tante Felicity nach Kanada in ein Internat verfrachtet worden. Miss Bodycotes Höhere Mädchenschule ist ein besonderes Internat, das auch schon Flavias Mutter besucht hat. Ihr Porträt hängt mit Blumen bekränzt im Flur und das ist nicht die einzige Merkwürdigkeit. Neben der Leiche, die Flavia am ersten Tag entdeckt, gehen noch andere Seltsamkeiten an der Mädchenschule vor sich.
Eine freigesprochene Mörderin unterrichtet Flavias Lieblingsfach Chemie und manche Schülerinnen verschwinden urplötzlich aus der Schule. Auch Flavias Zimmernachbarin weilt nur kurz im gemeinsamen Zimmer und ist danach auf der Krankenstation untergebracht. Für niemanden erreichbar. Weiß Tante Felicity davon? Und was hat es mit der undurchsichtigen Schulleiterin Miss Fawlthorne auf sich?
Obwohl Flavia mehrfach versucht via Geheimcode Kontakt aufzunehmen, reagieren manche Schülerinnen überhaupt nicht auf das Wort „Fasanensandwich“, das schon in den vorherigen Bänden eine Rolle gespielt hat. Warum hat Tante Felicity darauf bestanden, dass Flavia ausgerechnet diese eigentümliche Schule besucht? Der Französischunterricht ist eine Qual und außerdem weiß sie immer noch nicht, wem sie eigentlich vertrauen kann. Als dann bei einer spiritistischen Sitzung einiger Schülerinnen auch noch das Ouija-Brett behauptet, dass Geister anwesend seien, ist Flavia klar, dass hier dringend ein paar Ermittlungen nötig sind.
Eine Leiche wirbelt Staub auf ist für viele Flavia-Fans sicherlich eine Überraschung. Flavias Familie spielt keine Rolle, Dogger schreibt zwar einen Brief und in ihrer Einsamkeit stellt Flavia sich vor, was ihre Schwester Daffy wohl gerade sagen würden, aber auch das ist nur ein schwacher Trost. Mir fehlen die Streitereien der Schwestern. Stattdessen lerne ich so viele neue Mitschülerinnen von Flavia kennen, dass ich nach der Hälfte schon Probleme bekomme, mir alle Namen zu merken. Jumbo, Van Arque, Collingwood, Brazenose, Fitzgibbons …- mir fehlen da ein paar deutlichere Charakterisierungen, ansonsten verschwimmen alle neuen Mitschülerinnen in einem Einheitsbrei. Der Fall ist nach wie vor spannend und ich habe den Roman in einer Nacht durchgelesen. Trotzdem vermisse ich die Flavia-Zutaten, die diese Reihe für mich so besonders machen. Und das sind auch die besonderen Protagonisten. Ihr verdrehter Vater, ihre zickigen Schwestern, Dogger, und die magischen Orte Buckshaw und natürlich Bishop’s Lacey.
Ich war auch kein großer Fan davon, dass Harry, Hermine und Ron auf der Suche nach Hoarcruxen Hogwarts verlassen müssen, aber im Gesamtkontext war das natürlich ein unvermeidlicher Schritt in der Geschichte. Wie viel Flavia jetzt in dieser Ausbildungsepisode wirklich mitgenommen hat, ist für mich nicht ganz klar geworden. Aber zumindest konnte sie den Fall lösen und sie ist auf dem Weg ihre Bestimmung zu erfüllen. Und vielleicht gibt es ja auch im nächsten Teil noch mehr Fasanensandwichhinweise. Ich bin nach wie vor gespannt wie es weiter geht, aber auch ganz froh, dass Flavia am Ende des Romans endlich ein Schiff Richtung Heimat betritt.
Alan Bradley – Flavia de Luce. Eine Leiche wirbelt Staub auf.
Aus dem Englischen von Gerald Jung und Katharina Orgaß.
Penhaligon 2016.
ISBN: 978 – 3 – 7645 – 3112-6