„Scharnow ist über(all).“

Bela B. hat ein Buch geschrieben. Das Debüt des Schlagzeugers der besten Band der Welt (aus Berlin!) überzeugt, die absolute Unvorhersehbarkeit der Handlung sorgt für eine Menge Spaß.

Scharnow ist Liebesgeschichte, Alien-Invasionsstory, Gesellschaftskritik und im wahrsten Sinne Pulp Fiction – und vor allen Dingen absolut unberechenbar. Es gibt den Pakt der Glücklichen auf der Suche nach Bier, irre Nazis, einen verstorbenen Literaturblogger, ein mordendes Buch, Aliens, ein Mangamädchen und einen syrischen Praktikanten, der sich unsterblich verliebt. Klingt absurd? Ist es auch. Man weiß nicht genau, was man liest. Coming-of-Age-Story oder Agententhriller, Superheldengeschichte oder Gesellschaftsstudie oder geht es vielleicht doch einfach nur um Aliens? Eigentlich ist es von allem ein bisschen und da ist es trotz des mehr als vierzig Personen umfassenden Registers am Anfang nicht immer einfach, den Überblick zu behalten. Aber das macht gar nichts, der Unterhaltungswert der Erzählung gerät für Bela nie aus dem Blickwinkel.

Scharnow ist ein kleiner und recht verschlafener Ort irgendwo in Brandenburg. Neben dem Personenregister verweist eine Zeichnung auf den Aufbau der Siedlung, das erinnert an ein World-Building, wie man es von guter Fantasyliteratur gewohnt ist. Hier sieht man das gigantische Hochhaus, den Supermarkt, das Dönerimperium, den Parkplatz, den Wald. Bekannte Orte, könnte man meinen. Aber dann ist eben doch alles ein bisschen anders.

Ein Literaturblogger (sic!) stirbt unter mysteriösen Umständen. Eben jener Blogger, der im Klappentext des Romans, den man gerade in den Händen hält, mit den Worten „Scharnow ist über(all)“ zitiert wird. Selten wird so schön mit Metaebenen gespielt. Neben dem verstorbenen Blogger überfällt eine Bande eines selbsternannten Geheimbundes nackt einen Supermarkt und richtet großen Schaden an. Die Szene ist so drüber und wird gleichzeitig in einer solchen filmischen Präzision erzählt, dass man sich schon fast in einem Tarantinofilm glaubt. Aber damit nicht genug. Ein Superheld gibt sich ebenfalls der Öffentlichkeit zu erkennen und im Geheimen drohen gefährliche Aliens mit einer Invasion, aber ist die sie selbsternannte Bürgerwehr nicht noch gefährlicher?

Die Kapitel kreisen dabei um die verschiedenen Protagonist*innen, die in einer Plattenbausiedlung in Scharnow leben, sich entfernt kennen oder eben im selben Supermarkt einkaufen. Eigentlich sind sich die meisten handelnden Personen schon begegnet, aber die meisten kennen sich nur flüchtig, sodass es auch nicht auffällt, wenn dubiose Mächte zeitweise den Körper einer alten Dame bewohnen. Man hat sich ja vorher auch kaum etwas zu sagen gehabt, da fällt so eine Invasion á la Körperfresser kaum auf. Das ist eine tragische Quintessenz des Romans.

Jedes Kapitel strotzt vor Ideenreichtum und abgefahrenen Figuren, die in ihrer Klischeehaftigkeit wirklich liebevoll erfasst werden. Ja, es gibt solche Menschen. Garantiert. Und keiner von ihnen weiß, um was es wirklich am Tag X ging, dem Dreh- und Angelpunkt, um den die Story aufgebaut ist. Sprachlich wird der Roman, besonders bei den Dialogen, recht lässig vom Drummer aus der Hüfte geschossen, eben so, wie man es auch aus dem Italo-Western kennt.

„Zarmo, alter Killer, ich bin’s Trönse.“

„Trönse, bist du irre, hier anzurufen, wir wollten doch …“

„Alles gut, Alterchen, für unser Attentat interessiert sich keiner. Die Spackos, die da nackt in den Supermarkt rein sind, die hat irgendwer gefilmt, die sind ein richtiger Hit , sage ich dir. Und die Polizei kümmert sich nur um den fliegenden Mann.“

Scharnow, S. 347

In Bela B.s Debüt passiert eine Menge Unvorhergesehenes, Banales und Großes und das auf gerade einmal knapp 400 Seiten. Wer seit den Romanen von Walter Moers nicht wusste, dass Bücher eine mörderische Kraft entfalten können, ist zumindest nach der Lektüre von Scharnow schlauer geworden.

Bela B. Felsenheimer – Scharnow. Heyne Hardcore 2019.

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