Glister

Morbide Stimmung und verschwundene Kinder – in John Burnsides Roman Glister wird das Alltägliche mit Szenen aus Alpträumen vermischt. Es ist alles so merkwürdig daneben in dieser schottischen Stadt, die Innertown heißt und in der fast keine normalen Menschen wohnen. Die Polizei ist überfordert und die ganze Stadt liegt in einer merkwürdigen Schockstarre, die niemand so richtig nachvollziehen kann. Aber es wird relativ schnell klar, dass Innertown zu den Lost Cities gehört, quasi als Nicht-Ort irgendwie existiert, umgeben von zerstörter Natur und bevölkert von Menschen mit kaputten Familienstrukturen.

Das Fabrikgelände, der Ort, der hier zum Spielen einlädt, ist wahrscheinlich auch der Ort, der dafür gesorgt hat, dass es allen so miserabel geht. Krebserkrankungen nehmen zu. Die Abfälle der Chemiefabrik haben die Gegend über Jahre vergiftet, mutierte Tiere bevölkern die Umgebung, tote Fische schwimmen in den Flüssen, es sollen sogar C-Waffen hergestellt worden sein. Früher gehörte die Fabrik einem Herrn G. Lister und so klärt sich auch der merkwürdige Titel des Romans auf. Allerdings gehörte ihm nicht nur die Fabrik, auch auf einer geheimnisvollen und unheimlichen Maschine im Keller des verlassenen Geländes findet sich sein Name. Ob diese Maschine ein Hinrichtungsapparat ist oder ein Portal in eine andere Dimension beherbergt, das extra für die Kinder gemacht wurde, das kann der verstorbene Erzähler Leonard leider nicht mehr sagen.

„Ich dachte, das Leben sei eine Sache und der Tod eine andere, aber das dachte ich nur, weil ich noch nichts über den Glister wusste.“

In dem verlassenen Landstrich läuft einiges schief. Der Sanierungsbevollmächtigter Smith kassiert enorme Summen um die Vergiftung des Bodens durch die Fabrik zu vertuschen und hat die Stadt in der Hand. Fast alle, die noch einen Job haben, sind von ihm abhängig, denn er verwaltet über seine Firma, Gelder, die der verlorenen Stadt zustehen. Außerdem besticht er den einzigen Polizisten von Innertown, Morrison, der so sehr an Smith und den vermeintlichen Wohlstand den dieser Mann bringen soll, glaubt, dass er korrupt wird. Morrisson vertuscht in Smiths Auftrag, dass er die Leiche eines Fünfzehnjährigen gefunden hat. Aber das fällt niemandem auf. Die Eltern der verschwundenen Kinder sind genau so apathisch und teilnahmslos wie der Rest der Bevölkerung. Arbeitslosigkeit, gesundheitliche Probleme durch die Fabrikabfälle, beginnender Wahnsinn – es gibt vieles, was die Menschen in Innertown lähmt und unglücklich macht.

Anstatt eine Aufklärung der Verbrechen zu fordern, bilden sich nach und nach urban legends. Die Kinder und Jugendlichen haben schon immer aus Innertown weg gewollt und nun haben sie es eben geschafft, das bessere Leben warte eben überall auf sie, nur nicht hier. Es sind bereits fünf Jugendliche verschwunden, aber niemand stört sich daran. Aber die Kinder und Jugendlichen, die noch da sind, können den Erwachsenen bald nicht mehr glauben.

Auch Leonard glaubt den Geschichten nicht. Er ist anders als die anderen. Er glaubt an das Gute oder an Erlösung, was auch immer das heißen mag und er will sich nicht mit dem Status Quo abfinden. Und wie so oft in dieser Erzählung, die mit vielen religiösen Elementen angereichert ist, verschiebt sich die Erzählebene. Die Geschichte beginnt mit dem „Buch Hiob“, es endet mit der „Feuerpredigt“. Ein Junge verschwindet an Halloween, also dem Tag, an dem die Toten mit den Lebenden Kontakt aufnehmen können. Die Jugendlichen erzählen sich, dass er den Teufel beschwören wollte und deshalb im vergifteten Wald gewesen wäre. Leonard weiß nicht, was er glauben soll. Bis auch sein bester Freund verschwindet. Leonard versucht sich mit Literatur über den Tag zu retten, er liest Dickens und Proust und hat Sex mit seiner on-off-Freundin Elspeth. Aber das hilft nicht. Deswegen hält er sich oft in der alten Fabrik auf, streift immer wieder über das verlassene Gelände, denn die Fabrik und das ganze vergiftete Areal ist “ alles an Kirche […], was wir haben“.

„Danach, am Montag, soll eigentlich wieder Schule sein, aber kein Mensch geht hin. Das ist nur eine der kleinen Gesten, die uns zur Verfügung stehen: Am Tag, nachdem wieder einer von uns verschwunden ist, gehen wir nicht zur Schule, sondern streifen durch Stadt oder Fabrikgelände, stehlen, was irgendwie wertvoll aussieht, und zerschlagen den Rest. Es verrät das schlechte Gewissen der Behörden, dass unser Treiben keine Folgen hat. Sie fühlen sich schuldig, weil sie wissen, dass sie uns im Stich lassen.“ (S. 154)

Doch bei Sachbeschädigung bleibt es nicht. Aus lauter unterdrückter Wut bringt eine Clique von Teenagern einen Mann um. Er ist nicht der Mörder der verschwundenen Kinder, er ist ein Außenseiter, der ein bisschen wunderlich ist und noch nie richtig zu Innertown dazugehört hat.

Glister ist kein Roman, der sich leicht lesen lässt. Leonard scheint der einzige zu sein, der noch an Vergebung und Hoffnung für den verlassenen Ort glaubt, an dem jeder Schuld auf sich geladen hat, durch

„die Sünde der Unterlassung, die Sünde, unseren Blick abzuwenden und nicht zu sehen, was direkt vor unserer Nase geschieht. Die Sünde, nicht wissen zu wollen; die Sünde, alles zu wissen und nichts dagegen zu tun. Die Sünde, etwas auf Papier zu wissen, es aber nicht ins Herz vorlassen zu wollen.“

Glister ist ein absolut gelungener Roman, poetisch, zornig, hochgradig philosophisch, gesellschaftskritisch und absolut spooky. Die einzige Erlösung, so scheint es, liegt darin, die Erzählungen nicht aufhören zu lassen: „alles wird, und dieses Werden ist die einzige Geschichte, die nie zu Ende geht. […] Dabei wissen alle, es ist weder dieses noch jenes, sondern nur der Ort, an dem die Geschichten beginnen und enden.“

John Burnside – Glister. Aus dem Englischen von Bernhard Robbe. Penguin 2018. 285 Seiten.

Ich habe den Roman als Rezensionsexemplar vom Bloggerportal angefordert. Vielen Dank!

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All die Jahre

Es soll ein großes Abenteuer werden. Nora und Theresa Flynn wandern von Irland nach Amerika aus. Noras Verlobter Charlie ist schon vor Ort und wartet auf die beiden Schwestern. Aber dann kommt alles ganz anders als gedacht und Nora und Theresa sprechen mehrere Jahrzehnte nicht mehr miteinander.

All die JahreAll die Jahre ist ein Familienroman und gleichzeitig auch eine Geschichte einer Auswanderung, die zu scheitern droht. Während in ihrem irischen Dorf alles klar geregelt war, sehen sich die Schwestern in Boston mit vielen neuen Freiheiten konfrontiert, mit denen sie nie gelernt haben umzugehen. Nora reißt sich zusammen. Sie weiß, dass sie Charlie heiraten soll, auch wenn sie ihn nicht liebt. Das hatten die Familien schon in Irland abgesprochen. Nora ist ihr eigenes Leben weitestgehend egal. Sie erfüllt ihre Pflicht, arrangiert sich mit ihrer Ehe und hält nichts von Tagträumereien. Nora glaubt daran, dass es Theresa besser haben soll. Für ihre Schwester sollen in Boston alle Türen offen stehen, hier kann sie Lehrerin werden, immerhin war Theresa die beste Absolventin der Dorfschule. Aber Noras Plan geht nicht auf.

Theresa stürzt sich in ihre neue Freiheit und wird von einem verheirateten Mann schwanger. Der Vater des Kindes interessiert sich wenig für Theresa, er hat ja bereits eine eigene Familie. In den 1950er Jahren und im katholischen Umfeld der Schwestern ein Skandal. Nora zwingt die 18-jährige Theresa dazu, das Kind im Geheimen auf die Welt zu bringen, zusammen mit Charlie adoptiert sie dann den Sohn ihrer Schwester. Nora ist 21 und damit volljährig und darf entscheiden, was mit ihrem Neffen passiert. Sie erfüllt ihre Pflicht, glaubt sogar  daran, Theresa einen Gefallen zu tun. „Nora hat sich das Baby einfach genommen“, denkt Theresa. Die Schwestern werden fast fünfzig Jahre nicht miteinander reden.

Ihr Leben lang hatte ihre Schwester sie zähmen wollen, hatte versucht, sie für die Welt zurechtzumachen. Nora hatte einen dummen Mann geheiratet, den sie nicht liebte. Wieso machte die Tatsache seiner Existenz aus ihr eine bessere Mutter, als Theresa es für ihren eigenen Sohn war? (S. 104)

All die Jahre ist der dritte Roman von J. Courtney Sullivan, Sommer in Maine steht hier im Moment noch ungelesen im Regal. Aus verschiedenen Blickwinkeln und mit langen Rückblicken wird die Familiengeschichte der Schwestern erzählt. Geheimnisse und versteckte Vorwürfe gehören selbstverständlich zum Familienalltag der Raffertys.

Da gibt es John, einen aufstrebenden Politiker, der gemeinsam mit seiner Frau, die sich für etwas besseres hält, ein chinesisches Mädchen adoptiert hat; Bridget, die lesbisch ist und darüber nicht mit ihrer Mutter sprechen kann, obwohl sie seit Jahren mit ihrer Freundin zusammenlebt und mit ihr ein Kind plant; Brian, der nichts auf die Reihe kriegt und in der Bar seines Bruders Patrick arbeitet. Und da ist Patrick, das Lieblingskind von Nora – der Sohn von Theresa.

Im Haus ihrer Kindheit und Jugend waren Verdrängung und Unterdrückung von Gefühlen üblich. Nora und Charlie schliefen in getrennten Betten. Insgeheim nannten Bridget und John sie deshalb Ernie und Bert. (S.154)

Auch wenn bei den Raffertys nicht alles rund läuft, treffen sich die Geschwister regelmäßig und versuchen den Kontakt untereinander zu halten. Obwohl die Kinder in der amerikanischen Gesellschäft längst angekommen sind, können Charlie und Nora nicht von der alten Heimat lassen, Nora glaubt auch Jahre nach der Auswanderung noch daran, dass sie irgendwann zurückkehren wird. Als sie nach Jahrzehnten wieder die grüne Insel betritt, merkt sie selbst, dass sie sich etwas vorgemacht hat.

Offene Gespräche innerhalb der Familie sucht man vergebens. Weder kann Bridget ihrer erzkatholischen Mutter begreiflich machen, dass ihre Freundin nicht ihre Mitbewohnerin ist, noch hat Nora mit ihren Kindern darüber gesprochen, dass Patrick der Sohn ihrer Schwester ist. Und auch John und Patrick konkurrieren seit Jahren um die Anerkennung der Mutter. Nora zeigt wenig Gefühle und auch zu ihrer Schwester hat sie seit Jahren keinen Kontakt mehr. Theresa lebt als Nonne in einem Kloster, weitestgehend abgeschieden von der Welt. Als es zu einem Trauerfall in der Familie kommt, kündigt sich überraschend Theresa an.

Sullivan schreibt sehr locker und handwerklich versiert, eine Geschichte, die keine großen Überraschungen bereit hält. Außerdem gibt sie spannende Einblicke in die irische Auswanderercommunity in den 1960er Jahren in Boston. Durch die Perspektivwechsel zwischen Theresa und Nora und die verschiedenen Zeitsprünge ergibt sich so ein unterhaltsamer Familienroman, den man sehr schnell wegschmökern kann. Sullivan schafft es auch, Nora, die viele versteckte Probleme mit sich herum trägt und mir als Leser*in unglaublich fremd ist, als Figur zu gestalten, die fast sympathisch darin wirkt, unbedingt das richtige tun zu wollen.

Thematisch erinnert die Story ja auch ein bisschen an die Erfolgsserie Call a Midwife, die im London East End der 1950er Jahre spielt und in der sich die Hebammen und Nonnen neben den ständigen Hausgeburten häufig mit ähnlichen Problemlagen konfrontiert sehen wie die Geschwister Nora und Theresa – mit einer ungewollten Schwangerschaft. Allerdings wirken die Figuren hier noch glatter als in der BBC-Erfolgsproduktion. Und für diejenigen, die die Serie kennen, wird vielleicht deshalb klar, weshalb ich diesen Roman nicht schlecht fand, aber eben auch nicht fantastisch gut.

J. Courtney Sullivan – All die Jahre (Saints for all Occasions). Aus dem Englischen von Henriette Heise.  Deuticke im Paul Zsonlay Verlag Wien 2018. 460 Seiten.

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Turtles All the Way Down

 You’re both the fire and the water that extinguishes it. You`re the narrator, the protagonist, and the sidekick. You’re the storyteller and the story told. You are somebody’s something, but you are also your you. (S. 257)

Nach dem Riesenerfolg von The fault in our stars (Das Schicksal ist ein mieser Verräter) nahm sich Green viel Zeit für seinen Nachfolger, der auf Deutsch unter dem Titel Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken erschienen ist. Insgesamt sechs Jahre mussten seine Fans auf das neue Buch warten. In Turtles all the way down befinden wir uns in Greens Lieblingsterritorium, das er meiner Meinung nach in jedem seiner Bücher in verschiedenen Variationen wieder aufgreift: im mittleren Westen der USA, der von superintelligenten und nerdigen Teenagern bevölkert wird, die sich mit existentiellen Krisen herumschlagen. Das klingt nicht außergewöhnlich, aber wenn dann noch Star Wars und The Tempest als (pop)kulturelle Referenzen gedroppt werden, schwebe ich schon im Zitatehimmel.

Turtles all the way down

Es geht es um die 16-jährige Aza und ihre Freundin Daisy, die beide in ein großes Abenteuer stolpern. Ein Milliardär aus der Nachbarschaft ist verschwunden (ihr Lieben, es ist ein Jugendbuch!) und Hinweise auf seinen Aufenthaltsort werden mit hunderttausend Dollar belohnt. Die Detektivstory ist eigentlich nur eine Nebensache, denn Aza verliebt sich in den Sohn des Milliardärs, der alleine mit seinem kleinen Bruder auf die Rückkehr seines Vaters wartet. Aza kennt ihn schon seit einem gemeinsamen Sommer im „Sad Camp“ – einem Feriencamp für Kinder, die einen Elternteil verloren haben. Genug Inhalt und Konfliktpotenzial sind also da. Aber Green legt noch eine Schüppe nach.  Aza hat ein großes Problem. Sie leidet an einer Angststörung und Panikattacken. Sobald sie anfängt sich in ihren Gedankenspiralen zu verlieren, kann sie nicht mehr aufhören. Ein komisches Gefühl im Bauch wird für sie gedanklich direkt zu einer Lebensmittelvergiftung mit ungewissem Ausgang. Die einzige Gewissheit, die sie hat, besteht darin, dass alles immer nur noch schlimmer werden kann.

 

I think, You will never be free from this.

I think, You don’t pick your thoughts.

I think, You are dying, and there are bugs inside of you that will eat through your skin.

I think and I think and I think.

 Natürlich ist die Geschichte insgesamt sehr konstruiert. Der Milliardärssohn schreibt Poesie und anonyme Blogposts und interessiert sich für Astrologie (und romantisches Sterne gucken). Auch während sein Vater verschwunden ist, hat er nur Augen für Aza – das ist natürlich alles ein bisschen too much und ein bisschen kitschig. Genau so, wie man es von einem wirklichen guten Green gewohnt ist (oder fandet ihr die Geschichte von Hazel, die krebskrank nach Amsterdam fährt um ihren Lieblingsschriftsteller zu treffen, realistisch? Ja, eben…).

Trotzdem bleibt gerade im Mittelteil das Gefühl zurück, dass sich Green für diesen Roman wirklich sehr viele Themen vorgenommen hat. Die beiden Jungs, die alleine in ihrem Haus leben und mit der Angst um ihren Vater klar kommen müssen, werden von Azas ausführlichen und tragisch-absurden Ängsten in den Hintergrund gerückt. Vielleicht ist das auch ein überzeugendes Argument für diese Konstruktion: Aza ist so sehr in ihrem Kopf gefangen, dass selbst ein so unrealistisch Abenteuer sie nicht von sich selbst und ihren psychischen Zwängen befreien kann. Und auch die große Liebe ist kein Allheilmittel. Insgesamt fand ich den Roman sehr viel düsterer als andere Romane von John Green, auch wenn es ein stimmiges Wohlfühlende gibt (das man nicht mit einem Happy-End/ „Ende gut, alles gut“ verwechseln sollte). Die Dialoge sind umwerfend komisch, Daisy ist eine grandiose Figur (die auch noch Rey- Chewbacca-Liebesfanfiction schreibt – wie genial ist das denn bitte!) und auch die Geschichte, die sich hinter dem Titel des Romans verbirgt, hat mir gut gefallen.

John Green ist auf YouTube ziemlich aktiv und hat auch einen eigenen Kanal, den er zusammen mit seinem Bruder Hank betreibt. Als Vlogbrothers erreichen sie mittlerweile 3 Millionen Abonnent*innen. Zum Erscheinungstermin seines neuen Buches, machte John Green auch in einem Vlog deutlich, dass er persönlich auch von OCD betroffen ist, die sich bei ihm, wie bei seiner Hauptfigur Aza, in ewigen Gedankenspiralen äußert. Sicherlich ein Grund dafür, warum die Probleme der Hauptfigur so sensibel verhandelt werden, ohne die Absurdität der Handlungen der Betroffenen und die Probleme, die sich daraus auch für zwischenmenschliche Beziehungen ergeben, außen vor zu lassen.

Madness, in my admittedly limited experience is accompanied by no superpowers; being mentally unwell doesn’t make you loftily intelligent any more than having the flu does. So I know I should’ve been a brilliant detective or whatever, but in actuality I was one of the least observant people I’d ever met.

Das Ende ist ziemlich positiv, das hatte ich schon gar nicht mehr erwartet. Und die Freundschaft zu Daisy bekommt noch einmal eine neue Dimension, die mich ebenfalls überraschen konnte.

John Green: Turtles all the way down. Dutton Books 2017.

 

 

Nachtlichter

Amy Liptrot hat mit ihrem Debüt Nachtlichter eine mutige Geschichte über die Einsamkeit in der wilden Natur der Orkneys geschrieben und liefert gleichzeitig tiefe Einblicke in das Leben nach ihrem Alkoholentzug.

NachtlichterDie Journalistin Amy Liptrot landet mit Anfang dreißig an dem Ort, an den sie eigentlich nie zurückwollte – in ihrer alten Heimat, den Orkneyinseln, einer abgelegenen Region im dünn besiedelten Schottland. Nur zwanzig der Inseln sind bewohnt, Cava, Faray, Fara, Eynhallows, Swona und Copinsay sind es nicht mehr. Sie sind  einsame Flecken Erde, „auf denen die leeren Häuser verfallen, den Elementen preisgegeben“, während die Felder sich langsam in Moore verwandeln. Warum Amy Liptrot ausgerechnet diese unwirtlichen Orte aufsucht, macht einen großen Teil der Faszination des Buches aus.

Auf der kleinen Insel Papay gelingt es Amy Liptrot für einen Moment innezuhalten. Als sie die Wellen beobachtet, wird ihr etwas klar: Alle Wellen können „nur eine bestimme Höhe erreichen, ehe sie abstürzen“. Es ist der Moment, der für sie einen Neuanfang markiert.

Während eine Welle zerschellt und Schaum in meine Richtung spritzt, wird mir klar, dass ich […] mich beim Trinken genauso gefühlt habe. (S.266)

Amy Liptrots Debüt zu lesen, gleicht gerade in den Anfangssequenzen einem voyeuristischen Akt. Es ist nicht ganz einfach zu lesen, wie viele Abstürze die Journalistin mitmachen muss und welche Schwierigkeiten ihr immer wieder begegnen, die in der Regel mit ihrer Alkoholsucht zusammenhängen. Das spannende und faszinierende an dieser Biografie ist hingegen, wie es Liptrot gelingt, in der Einsamkeit der Natur zu sich selbst zu finden. Während sie Basstölpel und Lummen beobachtet, Steinmauern baut und Schafe über die Weide trägt, merkt sie, dass das Leben in der Natur eine heilende Wirkung hat. Sie beschäftigt sich mit Nachtlichtern und Astronomie und kann über ihr Handy und ihren Laptop mit der Welt „da draußen“ kommunizieren. Erst hier entfaltet sich das, was der Observer  als „Sternstunde des New Nature Writing“ bezeichnet. Und um diesen krassen Kontrast zu verstehen, war der erste Teil, in dem Liptrot sich von Exzess zu Exzess quält, Jobs verliert, betrunken durch London auf der Suche nach Alkohol irrt und aus WG-Zimmern geschmissen wird, wahrscheinlich für die Schriftstellerin notwendig. Für die Leser*innen kann dieser Aufbau etwas langatmig werden.

Erst weit weg von der Zivilisation, an den wahrscheinlich einsamsten Orten der Welt, die sie seit ihrer Jugend verlassen wollte, findet sie zu sich selbst und lebt ein Leben wie ihre Eltern. Sie züchtet Schafe und lässt sich auf Papay nieder, einer Insel mit gerade einmal 70 Bewohner*innen. Hier schwimmt sie im Meer, fängt an zu schnorcheln und lebt sehr minimalistisch. Außerdem arbeitet sie für einen Umweltschutzverein und zählt den seltenen Wachtelkönig, einen bedrohten Vogel, den man nur nachts hören kann. Während sie versucht, den Vogel zu finden, reflektiert sie immer wieder ihre Situation und versucht zu verstehen, warum sie wieder im Nordwesten der Orkneys gelandet ist. Und dann spielt auch die Literatur wieder eine Rolle.

Schon vor meinem Sommerjob habe ich angefangen, Moby Dick zu lesen. Inzwischen lese ich das Buch schon so lange, dass es sich anfühlt, als befände ich mich selbst auf einer dreijährigen Walfangreise rund um die Welt; ich trage das Buch jeden Tag bei mir, schwer wie eine Harpune liegt es in meiner Umhängetasche. Ich bin der rasende Kapitän Ahab, nur jage ich anstelle eines Wals einen scheuen Vogel. (S.167)

Im englischsprachigen Raum scheint die Kategorie „New Nature Writing“ tatsächlich ein großes Ding zu sein. Ich habe mich ein bisschen an Wild -Der große Trip erinnert gefühlt, aber trotzdem schreibt Liptrot ganz anders, dafür nicht weniger faszinierend von ihrem Weg in ein glücklicheres Leben.

„Ich habe Diskolichter gegen Himmelslichter eingetauscht, aber ich bin immer noch von Tänzern umgeben. Ich werden von siebenundsechszig Monden umkreist.“ (S.269)

Amy Liptrot – Nachtlichter. Aus dem Englischen von Bettina Münch. btb 2017.

Das Bild habe ich letzte Woche in unserem Kroatienurlaub gemacht – ich habe es leider nicht nach Schottland geschafft. Aber Kroatien war auch sehr schön ;)

Ich habe den Roman bei vorablesen.de als Rezensionsexemplar bekommen, vielen Dank.

Lieber Mr. Salinger

130_0515_153886_xlBuchmenschen sind besondere Menschen. Joanna Rakoff beschreibt in ihrem unterhaltsamen Roman Lieber Mr. Salinger nicht nur ihre eigenen Erlebnisse in einer New Yorker Literaturagentur, sie schreibt auch von leidenschaftlichen Buchmenschen und natürlich J. D. Salinger. Vor allen Dingen aber schreibt sie davon, wie es ist, als graduierte Literaturwissenschaftlerin in der Arbeitsrealität anzukommen und nicht nur deshalb, habe ich diesen Roman sehr gemocht.

    Dieses Buch erzählt die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, so gut ich sie erzählen konnte. (S. 9)

Joanna ist 23 Jahre alt, gerade mit der Uni fertig (Thema der Abschlussarbeit war Sylvia Plath), voller Ideale und ohne rechte Perspektive. Nach einem London-Aufenthalt kehrt sie in die USA zurück. Ihren langjährigen Freund hat sie verlassen und sie teilt ihre Wohnung mit ihrem neuen Freund, dem Möchtegern-Schriftsteller Don. Die Beziehung ist nicht einfach und ehrlich gesagt, habe ich ohnehin nicht verstanden, wie Joanna es mit so einem Typen aushalten konnte. Don schreibt und das ist auch Joannas Traum.

Tag für Tag saßen wir mit übereinandergeschlagenen Beinen auf unseren Drehstühlen, nahmen für unsere Chefs Anrufe entgegen und geleiteten mit der gebotenen Mischung aus Begeisterung und Diskretion Autoren herein, ohne dass dies je darüber hinwegtäuschen konnte, das wir nicht deshalb in diesem Job gelandet waren, weil wir Schriftstellern Wassergläser reichen, sondern weil wir selbst Schriftsteller werden wollten und dies offenbar der salonfähigste Weg dahin war, auch wenn eigentlich jetzt schon deutlich wurde, dass es sich dabei um einen Trugschluss handelte. (S. 12)

Glücklicherweise geht es nicht nur  um Typen, sondern auch um Joannas ersten Job in einer Literaturagentur, die unter anderem J. D. Salinger vertritt.  Die Literaturagentur ist auch für das Jahr 1996 wirklich old school. Es gibt keine Computer, dafür Bücher über Bücher und wunderbare Buchmenschen, die für ihre Autor_innen alles tun würden und für Joanna unglaublich viel Glamour ausstrahlen – gerade dann, wenn sie Joanna nicht wie ein Möbelstück behandeln, sondern mit ihr sprechen.  „Jerry“ ist der Liebling von Joannas Chefin und gleich am ersten Tag wird ihr eingeschärft, dass sie auf keinen Fall die Adresse von Salinger, der es vorzieht, anonym und ruhig zu leben, herausgeben darf. Joannas Aufgabe besteht darin, Diktate ihrer Chefin abzutippen und ganz in Der Teufel trägt Prada – Manier als kleines Rädchen im Getriebe doch bitte nicht den großen Betrieb aufhalten. Außerdem soll sie die Fanpost für Salinger beantworten. Und das ist gar nicht so leicht.

Es gab Zuschriften, die ich im Laufe meiner Lektüre in die Kategorie ,tragische Briefe‘ einordnete: geschrieben von Menschen, deren geliebte Angehörige im Kampf gegen den Krebs jahrelange Trost in Salingers Büchern gefunden hatten; Menschen, die ihren sterbenden Großvätern Franny und Zooey vorgelesen hatten, die nach dem Verlust ihrer Kinder, Ehepartner oder Geschwister wie besessen Neun Erzählungen auswendig gelernt hatten. Und natürlich gab es auch hier The Crazies, die Verrückten, die sich mit schmierigem Bleistift über Holden Caulfield ausließen, begleitet von einer schmutzigen Haarlocke, die aus dem zerknitterten Papier auf meinen Schreibtisch fiel. (S. 89)

Aber Joanna kann es irgendwann nicht mehr übers Herz bringen, die persönlichen Lebensgeschichten und Leseeindrücke der Fans mit einem Standardbrief abzukanzeln und schreibt persönlich zurück. Außerdem steht ein großes Projekt an. Eine Erzählung Salingers, Hapworth, soll als dünner Einzelband erscheinen. Aber der Autor hat ganz eigene Vorstellungen und der Verleger scheint mit der Aufgabe ebenfalls überfordert zu sein.

In Rakoffs Roman geht es in den starken und beeindruckenden Passagen um die Liebe zur Literatur, die ersten aufregenden Schritte in die Arbeitswelt und den Versuch, die eigenen Träume nicht an der Realität scheitern zu lassen. Umso erstaunlicher ist, dass Joanna bis zur  Hälfte des Romans keinen Salinger gelesen hat. Die verrückte Leseratte liest zwar mal eben an einem Tag Unendlicher Spaß, weil der Roman zufällig im Büro eines Kollegen steht, kennt sich aber lange Zeit kaum mit dem größten (und schwerhörigsten !) Schriftsteller aus, den die Agentur vertritt. Als sie Salinger endlich (!) liest, werden seine Texte zur Offenbarung :

Salinger war nicht annähernd so, wie ich gedacht hatte. Nicht annähernd. Salinger war knallhart. Knallhart, witzig und sehr genau. Ich war Feuer und Flamme für ihn und für alles, was er geschrieben hatte. (S. 234)

Salingers Romane bleiben für Joanna etwas besonderes, sie werden zum Ereignis und das ist wirklich mitreißend geschrieben. Aber auch William Faulkner oder Joan Didion stehen auf Rakoffs Leseliste. Ihre Leidenschaft für Literatur ist ansteckend und macht Lust auf mehr. Lieber Mr. Salinger ist ein  Roman, der den Flair von New York und einer altehrwürdigen Literaturagentur genauso gut einfängt, wie die Faszination für  Lieblingsschriftsteller_innen, die unser Leben prägen. Kleine Abzüge in der B-Note gibt es allein deshalb, weil der Fokus zum Teil sehr stark auf den Beziehungsproblemen mit Don liegt. Allerdings gibt Rakoff so viele tolle Literaturtipps, dass mich Dons Unmöglichkeiten nach einiger Zeit nicht mehr so sehr nerven konnten. Stattdessen möchte ich jetzt sehr dringend noch mehr von Salinger lesen. Oder Unendlicher Spaß. An einem Tag.

Joanna Rakoff : Lieber Mr. Salinger (My Salinger Year).

Übersetzt von  Sabine Schwenk.

Albrecht-Knaus-Verlag München 2015.

ISBN: 978-3-8135-0515-3

Vielen Dank an lovelybooks für  die tolle Leserunde!

Himmel und Hölle

himmeluhoelle


Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen, man weiß nie was man bekommt.

(Forrest Gump)

Ich mag Kurzgeschichten, aus demselben Grund, aus dem ich Kurzfilme mag. Das Genre des kleinen Formats fordert: auf wenigen Seiten muss ein Problem dargestellt werden, Figuren bekannt gemacht werden und kaum weiß ich, worum es geht, ist der Spaß auch schon wieder vorbei. Der Kurzfilm oder die Kurzgeschichte lässt mir keine Zeit, mich auf die vielen Verstrickungen der Protagonist_innen einzulassen. Ich habe keine Zeit, zu beobachten, wie das Baby mit der Blitznarbe auf der Stirn auf einer Treppenstufe abgelegt wird, um erst sechs Romane später, dem finalen Kampf zwischen „Dem, dessen Namen nicht genannt werden darf“ und meinem Lieblingszauberer beizuwohnen. Kurzgeschichten funktionieren einfach anders. Trotzdem müssen sich Schriftsteller_innen dieses Formats immer wieder anhören, dass ihr Talent für einen Roman wohl nicht gereicht habe. Doch das stimmt nicht. Es ist unglaublich schwer, eine gute Kurzgeschichte zu schreiben, es ist eine Herausforderung. Sie zu lesen, kann ein kleiner Genuss für eine Bahnfahrt sein, besonders dann, wenn man vielleicht gerade keine Nerven und keine Zeit hat, sich auf einen 1000-seitigen Wälzer einzulassen. Sie passen als kleines bitter-süßes Praliné irgendwo in den normalen täglichen Lesegenuss, was allerdings nicht heißen muss, dass sie leicht verdaulich sein müssen. Kurzgeschichten können fordernd sein, kompliziert, immer geschickt komponiert – gerade weil das Format  einen pointierten Schluss fordert.

Gleichzeitig ist es schwer über Kurzgeschichten zu schreiben. Wie soll ich meine Begeisterung mitteilen, ohne das Ende vorwegzunehmen, ohne zu viel zu verraten? Letztes Jahr habe ich eine Kurzgeschichtensammlung von Oringer für die Rory-Gilmore-Leseliste gelesen und war begeistert. Im Mittelpunkt der Erzählungen standen ohne Ausnahme junge Frauen, das Setting hatte manchmal etwas Surreales. Und am Ende gab es – wie erwartet – den großen Knall, die Überraschung, die alles in einem neuen Licht erscheinen lässt. Kurzgeschichten ganz nach meinem Geschmack, mehr ein Centershock (kennt die noch jemand?) als eine Yogurette. Genau so, wie eine Kurzgeschichte sein sollte.

Doch mittlerweile bin ich mir gar nicht mehr so sicher. Alice Munro schreibt anders, weniger Centershock, aber dafür nicht weniger faszinierend. In Himmel und Hölle sind neun Erzählungen versammelt, in denen Frauen die Hauptrolle einnehmen und sich in den unterschiedlichsten Rückblenden erst pikante Details ergeben. Junge Ehefrauen, die nicht wissen, was sie eigentlich von ihrer Ehe erwarten; ältere Frauen, die auf ihre Ehe zurückblicken; Studentinnen, die voller Vorfreude ihrem alten Leben den Rücken kehren. Es sind alltägliche Geschichten, die den Lesenden präsentiert werden, die auch in der Gesamtschau eine gemeinsame Symphonie ergeben.

Die erste Erzählung Hasst er mich, mag er mich, liebt er mich, Hochzeit  (im englischen Original Hateship, Friendship, Courtship, Loveship, Marriage), beschreibt im Titel treffend das Paradigma, in dem Munro ihre Erzählungen unterbringt. Oder anders gesagt: Munros Paradigma ist Forest Gumps Pralinenschachtel. Ich weiß immer noch nicht, was ich da bekomme – aber Zartbitter ist das Mindeste. Dabei hat gerade diese erste Erzählung der Sammlung noch am ehesten  eine novellenartige Struktur: zwei Teenager beschließen aus niederen Motiven (man könnte auch sagen, aus purer Gemeinheit) Amor zu spielen und sorgen durch gefakte Briefe dafür, dass eine verhuschte Haushälterin am Ende glücklich wird. Im Nachhinein ist der Streich „märchenhaft, dabei gleichzeitig banal“, eine Liebesgeschichte in spröden Sätzen, die überhaupt nicht banal daherkommt, so wie keine der Erzählungen.

Die Figuren erscheinen mir nicht kitschig oder weltfremd, stattdessen habe ich das Gefühl, ich könnte ihnen jederzeit auf der Straße begegnen. Und wahrscheinlich würde ich ihnen nicht einmal anmerken, was sie gerade durchmachen. Die anderen Erzählungen bieten folglich auch weniger Grund zu jubeln. Wo der Himmel beschrieben wird, ist die Hölle nicht weit und lauert schon auf den verschlungenen Pfaden der nächsten Erzählung. Neben sämtlichen Facetten des Lebens, die eben auch Krankheit und das Altern umfassen, taucht auch immer wieder der Tod auf. Suizide sind häufig (und überraschend viele Figuren sind Lehrer_innen oder haben zumindest Ambitionen zu unterrichten – aber ich glaube nicht, dass diese Beobachtungen zusammenhängen ;)). Judith Hermann, die ein Vorwort zu einem der Erzählbände von Munro geschrieben hat, beschreibt ihre Erzählungen folgendermaßen:

Es gibt in diesen Geschichten eine hinter dem scheinbar Alltäglichen verborgene Intensität, einzelne, kleine Momente, die so etwas wie einen tröstlichen Begriff vom «Stattdessen» schenken können: Wir er­warten etwas vom Leben, und das bekommen wir nicht; wir be­kommen aber stattdessen etwas ganz anderes. Und die Kunst ist, das zu begreifen und auch wertzuschätzen. *klick*

Gerade diese Beobachtung fand ich sehr treffend. In Oringers Geschichten liegt am Ende ein totes Kind unter dem Baum. Bei Munro erwarte ich das tote Kind oder die intensive Phase der Rebellion oder was auch immer mit diesem besonderen Moment, den ich miterlebe, vielleicht verbunden werden könnte. Doch es passiert – nichts. Der Moment in seiner ganzen Einzigartigkeit führt nicht zu einer Veränderung, man arrangiert sich eben und es ist nichts Schlechtes, was dabei herauskommt. Es geht eben weiter. Trotzdem ist etwas bahnbrechendes passiert, das sich allerdings nur im Inneren der Figuren zeigt. Oder wie Andreas Schäfer in der Berliner Zeitung schreibt:

Jede Kurzgeschichte kennt den Und-jetzt-Moment, in dem die Handlung, die Stimmung, das Selbstbild der Figuren umschlägt, in dem Motivketten neu sichtbar werden, Anspielungen sich als solche entpuppen und zu einem überraschenden Sinnzusammenhang schließen. *klick*

*SPOILER* In der Erzählung Was in Erinnerung bleibt, versucht eine Frau durch ständiges Umdeuten und Neudenken einer längst vergangenen Affäre mit diesem Seitensprung klarzukommen. Erst nach dem Tod des Ehemannes geht ihr auf, was ihr damaliger Geliebter eigentlich wirklich zum Abschied gesagt hat (und ja, jetzt tu ich es doch, entschuldigt!):

Sie ging einen Schritt auf ihn zu, um ihm einen Kuss zu geben – bestimmt etwas ganz Natürliches nach den letzten Stunden -, und er hatte gesagt: ,Nein.’ – ,Nein’, sagte er. Das tue er nie. (S.401)

Erst mit jahrelanger Distanz stellt sie fest, dass sie eben doch keine echte Alternative gehabt hätte, dass auch dieser kurze Ausbruch nur ein scheinbares Glück war. Dass es für ihn, diesen Menschen, der ihre Tagträume jahrzehntelang bestimmt hat, eben nie eine Alternative war, mit IHR zusammenzuleben.



Man kann diese Erkenntnis deprimierend finden und nicht akzeptieren (wollen), wie Birgit von sätzeundschätze ausführlich darlegt. Man kann sie aber auch fest umklammern und in diesen wunderbaren Erzählungen versinken und nach und nach diese bitter-süßen Pralinen aus voller Seele genießen. Wenn ich euch noch nicht davon überzeugen konnte, dieser genialen Schriftstellerin, die 2013 als 13. Frau (!), den Nobelpreis für Literatur bekam, eine Chance zu geben: Jonathan Franzen hat in der Welt genau erklärt, warum Munro Lesen ein absolutes „Muss“ ist, weil sie „das beste ist, was die zeitgenössische Literatur Nordamerikas zu bieten hat„. Und auch sonst gefällt mir sein Artikel sehr.  Viel Spaß!

Alice Munro: Himmel und Hölle. Neun Erzählungen. Aus dem Englischen von Heidi Zernig.

Fischer Taschenbuch Verlag 2013.

Apocalypse, now – Herr der Fliegen

Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Jasagen.

(Friedrich Nietzsche)

3-596-21462-9_237295Kindern wird gerne nachgesagt, dass sie eine reine Seele, wahlweise auch ein reines Herz haben. Ihre Arglosigkeit und ihre Unschuld sind ein Vorbild für die moralisch verkommenen Erwachsenen. Es hat lange Zeit gedauert, bis sich eine so verklärte Vorstellung von Kindern gesellschaftlich durchsetzte. In Willam Goldings Roman Herr der Fliegen, der 1954 erschien, wird allerdings ein ganz anderes Bild von Kindern gezeigt, ein Mythos wird dekonstruiert, wenn nicht sogar komplett auseinander genommen. Ein bisschen erinnerte mich diese kindliche Radikalität an den Roman Nichts von Janne Teller, in dem am Ende auch die Erwachsenen keine Ahnung haben, was sich am Berg der Bedeutung eigentlich so genau abspielt. Im Roman Herr der Fliegen wird ein anderes Setting gewählt, das allerdings genauso abgeschlossen und unzugänglich für die Erwachsenen ist, wie die verschlossene Scheune: eine Gruppe britischer Kinder im Alter von 6-12 Jahren landet auf einer einsamen Insel im Pazifik (und damit wird schon am Anfang ein typisches Setting für eine Robinsonade gewählt). Die Gründe für ihren Flugzeugabsturz bleiben im Dunkeln, es muss wohl etwas mit einer Atombombe zu tun haben. Schnell wird klar, dass sie sich als Gruppe organisieren müssen, um auf der Insel zu überleben. Was in Lost noch ansatzweise funktioniert, verwandelt sich in Herr der Fliegen in eine Katastrophe.

Anstatt darüber glücklich zu sein, den Flugzeugabsturz überlebt zu haben und gemeinsam an improvisierten Hütten zu bauen, bildet sich bereits am Anfang eine kleine Splittergruppe um ihren Anführer Jack. Die Kinder kennen sich aus einem Chor und machen alles, was Jack von ihnen verlangt. Im gegenüber steht eine anfänglich größere Gruppe um den Jungen Ralph. Ralph ist nicht besonders intelligent, aber sehr hübsch. Und er hat einen entscheidenden Vorteil: er hat ein Muschelhorn gefunden, mit dem er die anderen Kinder zu Versammlungen einberufen kann. Deshalb wird er zum Anführer gewählt. Ihm zur Seite steht der dickliche, asthmatische Piggy, ziemlich intelligent für sein Alter. Wenn Beauty und Brain sich zusammentun, kann doch eigentlich nichts mehr schief gehen, oder?

Seine Stimme klang wie ein Flüstern im Vergleich zu dem rauen Ton des Muschelhorns. Er hob das Horn an die Lippen, holte tief Lust und blies noch einmal. Wieder kam der dröhnende Ton und sprang dann plötzlich, als Ralph noch kräftiger blies, eine Oktave höher. Jetzt war es ein schrilles Schmettern, noch durchdringender als zuvor. Piggy rief etwas, sein Gesicht strahlte vor Freude, und die Brillengläser glänzten. Vögel kreischten und kleines Tier lief durch das Dickicht. Ralph ging der Atem aus; der Ton fiel wieder eine Okatave tiefer, wurde zu einem dumpfen Geblubber, zu einem bloßen Rauschen. (S.24)

Doch die Kinder haben anderes im Sinn. Die Idee von Beauty sich den Regeln der Zivilisation auch unter widrigen Umständen zu unterwerfen, wird abgeschmettert. Die Kinder wollen mit Jack Schweine jagen, sie wollen Fleisch, und keine langweiligen Hütten bauen. Ralphs Idee, ein Feuer zu machen und dadurch Schiffe auf ihre Lage aufmerksam zu machen, missfällt. Irgendjemand muss ja schließlich das Feuer bewachen und warum sollte man sich darum kümmern, wenn es doch endlich keine nervenden Erwachsenen und keine Regeln mehr gibt? Die Situation droht zu eskalieren. Hinweise dafür gibt es genug:

„Das war’n feines Spiel!“

„Ja, nur ein Spiel“, sagte Ralph unsicher. „Ich bin beim Rugby auch mal schwer verletzt worden -“

„Wir müssten eine Trommel haben“, sagte Maurice, „dann wär’s erst richtig.“

Ralph blickte ihn an. „Wie richtig?“

„Ich weiß nicht so wie. Wir brauchen ein Feuer und eine Trommel und dann geht alles im Takt.“

„Und’n Schwein brauchen wir“, sagte Robert, „wie bei ’ner richtigen Jagd.“

„Oder jemand, der das Schwein macht“, sagte Jack. „Einer müsste sich verstellen als Schwein und dann so tun, als ob er mich umwerfen wollte und so -“ (S.161)

Doch bei Spielen bleibt es nicht. Es dauert nicht lange und die kleinen Wilden werfen sich in ihre Kampfmonturen und fallen übereinander her. Das paradiesische Idyll verwandelt sich ratzfatz in die Hölle auf Erden, als die Kinder  anfangen Piggy (Schweinejagd…) und Ralph über die Insel zu jagen. Gewalt, Rache, Ausbeutungsfantasien – die Kinder kennen keine Grenzen.

William Golding hat für den Roman 1983 den Literaturnobelpreis bekommen. Die Message ist einfach und unumstößlich, Homo homini lupus est, das Böse ruht im Innern, wie Simon ganz am Anfang auf der Insel, mit Schaudern, feststellt. Sobald die Zivilisation verschwindet, fallen die Schwachen den Starken zum Opfer, der dicke asthmatische Brillenträger hat keine Chance und diejenigen, die auf Regeln beharren, werden gnadenlos verfolgt. Eine ziemlich bittere Einstellung. Um diese Ausgangsidee zu untermauern, nimmt Golding in seiner Anti-Utopie in Kauf, dass einige Figuren eher schematisch angelegt sind, Gut und Böse sind klar getrennt. Ein, so scheint mir, typisches Verfahren in den 1950er Jahren um die Erfahrungen des zweiten Weltkriegs zu verarbeiten. Doch die schematische Struktur hat mich kaum gestört. Die Robinsonade funktioniert gerade durch ihre Vereinfachungen und ist eine beeindruckende, pessimistische Parabel über das Wesen des Menschen.

William Golding: Herr der Fliegen (Lord of the Flies 1954). 2012

Wir sind alle Individuen – Der Wolkenatlas

Der WolkenatlasDavid Mitchells Wolkenatlas ist kein gewöhnlicher Roman, eigentlich sind es mehrere Romane in einem. Und das Wolkenatlas-Sextett, das dem Roman immerhin seinen Namen gibt, ist anfänglich noch gar nicht so wichtig. Komposition hingegen auf jedenfall – die einzelnen Erzählungen sind ineinander komponiert, Figuren, die sich nicht kennen können, erinnern sich an ähnliche Begebenheiten. Raum und Zeit wird überwunden und manchmal wurde im Zusammenhang mit dem Roman vom Thema Seelenwanderung gesprochen oder wie die NZZ schreibt: „Mitchell kartographiert Seelen und schreibt Weltliteratur.“ Insgesamt sind es sechs Lebenswege, die hier geschickt miteinander verwoben werden.

Bewundere mich, weil ich eine Metapher bin! (S.223)

Die literarische Reise beginnt auf dem Meer, sie beginnt mit dem Pacifictagebuch des Adam Ewing. Der englische Notar soll Mitte des 19. Jahrunderts einen Erben ausfindig machen und befindet sich deshalb auf hoher See. Die Sitten an Bord sind rauh und der einzige Freund, den Ewing hat, ist der Passagier Dr. Goose, der Ewing gegen einen Parasiten behandelt. Als Ewing einem blinden Passagier das Leben rettet und ihn davor bewahrt, dass die Crew ihn über Bord werfen will, hat er einen zweiten Freund gewonnen, doch nichts ist so wie es scheint.

Als ich in die enge Kajüte zurückkam, dankte mir der Wilde für meine Fürsorge u. aß die derbe Hausmannskos, als wäre es ein Präsidentenfestmahl. Ich verriet ihm meine wahren Beweggründe nicht, nämlich, je voller sein Magen, desto geringer seine Neigung mich zu verspeisen, sondern frug ihn stattdessen, warum er mich während seiner Auspeitschung angelächelt habe. „Schmerz ist stark, ja, aber Freundauge mehr stark.“ Ich bedeutete ihm, daß er so gut wie nichts über mich wisse u. ich nichts über ihn. Er zeigte auf seine Augen u. dann auf die meinen, als wäre diese einfache Geste eine umfassende Erklärung. (S.44)

Ich hatte mich gerade an Ewing gewöhnt, Seemannslieder im Ohr (Hurrah, you rolling river…) und wollte Santiano einwerfen um richtig in Stimmung für das Pazifiktagebuch zu kommen – da endet das Tagebuch mitten im Satz. Auf Seite 57. Was passiert denn hier? Überraschung – erstmal nichts mehr mit Ewing.

Zeit für den nächsten Roman Briefe aus Zedelghem. Ein junger englischer Komponist, Robert Frobisher, flieht 1931 vor seinen Gläubigern nach West-Flandern und sucht Unterschlupf bei seinem musikalischen Vorbild Vyvyan Ayes, der ihn zu seinem Assistenten macht. Spontan wird Frobisher der Geliebte von dessen Frau (wie man das halt so macht) und gibt vor, über genug flüssige Mittel zu verfügen und von niemandem abhängig zu sein. Doch weit gefehlt. Die Briefe, in denen sich langsam abzeichnet, dass der Komponist an einem Stück namens Wolkenatlas-Sextett arbeitet (wie die sechs Geschichten eben), richten sich an seinen Geliebten und Geldgeber Rufus Sixsmith (und wieder eine sechs!).

Sixsmith,

gepriesen sei der heilige Rufus, Schutzpatron der bedürftigen Komponisten, gepriesen über alles, amen. Deine Postanweisung kam heute morgen wohlbehalten an – schilderte Dich meinen Gastgebern als senilen Onkel, der meinen Geburtstag vergessen hätte. Mrs. Crommelynck sagte, eine Bank in Brügge werde die Summe auszahlen. Werde dir zu Ehren eine Motette schreiben und das Geld so schnell ich kann zurückzahlen. Schneller vielleicht als du glaubst. Der tiefe Frost auf meinen Aussichten taut ab. (S.80)

Doch allzulange sollen die Lesenden sich auch nicht an Frobisher erfreuen – eine Journalistin ist nämlich im nächsten Roman die Hauptfigur. Halbwertszeiten – Luisa Reys erster Fall beginnt mit Rufus Sixsmith, der mit Luisa in einem Aufzug steckenbleibt. Luisa ist unterfordert in ihrem Job und hat eigentlich auch keine Lust mehr auf das Schmierblättchen für das sie schreibt. Rufus gibt ihr allerdings einen Tipp und mit einem mal ist Luisa hinter einer Story über die finsteren Machenschaften eine Atomkonzers her – blöd nur, dass ihre ,Journalisten‘-kolleg_innen wenig begeistert sind.

„Heißes Eisen, so eine Reaktor-Einweihung“, ruft Nussbaum. „Hört ihr das Gerumpel, Leute? Rollt da etwa ein Pulitzer-Preis auf uns zu?“ „Ach, leck mich, Nussbaum.“ Jerry Nussbaum seufzt: „In meinen feuchtesten Träumen …“ Luisa zögert- Soll sie zurückschlagen, dann zeigst du dem Wurm, wie sehr du dich ärgerst, oder soll sie ihn ignorieren, dann zeigst du dem Wurm, dass er sich einfach alles erlauben kann.“ (S.133)

Und wer dachte, diese Story sei chaotisch, der hat noch nicht den genial-unterhaltsamen nächsten Romanabschnitt Das grausige Martyrium des Timothy Cavendish gelesen. Cavendish ist Verleger, sehr belesen, und hält sich für den Nabel der Welt. Mit seiner Meinung hält er nicht gerne hinter dem Berg. Momentan blättert er in einem windigen Romananfang über eine gewisse Luisa Reys, den er gnadenlos abwatscht, da die Autorin einfach viel zu „kalkuliert einen auf Kunst gemacht hätte“ (S.213). Auch die obere Aussage über die Metapher stammt von Cavendish und nimmt doch gleichzeitig auf sehr selbstironische Weise das verschachtelte Roman-im-Roman-Prinzip von Mitchell selbst auf. Cavendish landet durch fiese Intrige in einem knastartigen Altenheim, aus dem er sich dringend befreien muss:

Sklaventreiber freuen sich über einsame Rebellen, damit sie jemanden haben, den sie vor den anderen herunterputzen können. In allen Gefängnisbüchern, die ich gelesen habe, sei es Der Archipe Gulag, Brian Keenans Schilderung seiner Geiselhaft im Libanon oder Faustfutter, steht, dass Rechte durch geschicktes Feilschen nach und nach erkämpft werden müssen. Der Widerstand der Gefangenen rechtfertigt in den Köpfen der Gefängniswärtern nur umso härtere Bestrafungsmaßnahmen. (S.238)

Und um Gefangene geht es auch im nächsten Romanteil Somnis Oratio, in dem eine ,Duplikantin‘ von einem Archivar befragt wird. In einem Interview, das mithilfe eines Orators geführt wird und im Ministerium für Testamente archiviert werden soll, schildert die Klonfrau Somni, welcher Verbrechen sie sich schuldig gemacht hat.

Und sobald dieses Interview vorbei ist, begegnet man einem Erzähler der ganz besonderen Art. Ein alter Mann erzählt von seiner Kindheit und aus seinem Leben vor dem ,Untergang‘, vor dem Ende jeglicher Zivilisation, vor dem Ende von Literatur und Kultur, vor dem Ende einer Sprache, wie wir sie kennen. Abends am Feuer werden wieder Fabeln über das Leben erzählt:

Diese Fabel is nix zum drüber Schmunzeln, aber ihr wollt was von meim Leben auf Big Island hörn und das sind die Erinnerungen wo so aus mir rausflutschen. (S.327)

Der Wolkenatlas ist ein über 600 Seiten langes Fest. Ich hatte so viel Spaß an diesem Roman, bin kleinsten Verbindungen hinterhergejagt, habe mich über Mitchells Erzählkunst gefreut und war richtig traurig, als ich mich von Somni und Cavendish und Luisa verabschieden musste. Gerade weil jeder Roman einen ganz besonderen Stil hat, wurde die verschachtelte Geschichte nie langweilig. Die Frage danach, was uns als Menschen ausmacht, bleiben in jeder gesellschaftlichen Entwicklungsstufe erhalten. Und die Prognose sieht nicht gut aus: „Eines Tages muss die ganze räuberische Welt sich auffressen“ hatten schon die Schiffsreisenden (und zukünftigen Sklavenhalter) auf dem Weg zur Kolonie festgestellt, und auch einige Atomkatastrophen später steht es um die conditio humana nicht besser. Die Starken gegen die Schwachen, Korruption, Machtgier – doch es gibt eben auch Ausnahmen, von denen Mitchell erzählt. Dass die Grundidee hinter dem Wolkenatlas – ein Ozean besteht aus einer Menge von Tropfen, eine Menge Menschen besteht aus vielen unterschiedlichen Individuen und die sind alle völlig verschieden, hängen aber alle zusammen und können eventuell den Lauf des Schicksals bestimmen – philosophisch nicht der größte Wurf ist, fällt bei einem so genial geschriebenen und konstruierten Werk kaum noch ins Gewicht.

David Mitchell – Der Wolkenatlas. Übersetzt von Volker Oldenburg. Rowohlt Taschenbuch Verlag 2007.

Der lange Schatten des Schreibtischs – Das große Haus

„Ein Rätsel: An einem Winterabend des Jahres 1944 wird in Budapest ein Stein geworfen. Er fliegt durch die Luft zum erleuchteten Fenster eines Hauses hinauf, in dem ein Vater am Schreibtisch arbeitet, eine Mutter liest und ein Junge mit offenen Augen von einem Schlittschuhrennen auf der gefrorenen Donau träumt. Die Scheibe zersplittert, der Junge hält sich die Hände über den Kopf, die Mutter schreit. In diesem Moment hört das Leben, das sie kennen, auf. Wo landet der Stein?(S. 367)

Ein Schreibtisch ist mehr als ein Schreibtisch ist mehr als …? In Nicole Krauss‘ Roman wird das wuchtige und eigentliche hässliche Möbelstück  zu einem Mythos und zum verbindenden Element zwischen vier Figuren, deren Lebenswege sich keinesfalls kreuzen, sich aber manchmal berühren. Der Schreibtisch hat neunzehn Schubladen, es gibt eine Schublade, die verschlossen bleibt. Und irgendwie konnte ich nicht verhindern, dass diese Schublade auch zum Symbol meines Leseerlebnisses wurde. Irgendwie richtig fassen kann ich diesen Roman nicht, vieles bleibt zu geheimnisvoll, zu überfrachtet. Und einen Schlüssel, abgesehen von dem Zitat oben, das immerhin erst auf Seite 367 auftaucht, bekam ich leider auch nicht.

Doch worum geht es? Der Schreibtisch ist so etwas wie ein missing link zwischen den Charakteren, obwohl er nicht unbedingt in jeder Erzählung vorkommt. Trotzdem wirkt er als „groteskes, bedrohliches Monstrum“ mit neunzehn Schubladen fast wie ein eigenständiges Wesen, dass sich in die Lebenswelt der Protagonisten drängt. Der Schreibtisch hat auch eine Geschichte, angeblich soll er einmal dem berühmten Dichter Lorca gehört haben. Als ich den Schreibtisch am Anfang des Romans treffe, gehört er einer New Yorker Schriftstellerin. Sie hat ihn von Daniel Varsky, einem chilenischen Dichter bekommen. Ursprünglich als Leihgabe, die sie allerdings nie zurückgeben muss. Varsky wird von der Geheimpolizei Pinochets entführt und zu Tode gefoltert. An diesem Schreibtisch sind zwei ihrer Romane entstanden, er ist für sie das Symbol ihrer Kreativität, die Bestätigung ihrer Fähigkeiten. Der Schreibtisch ist ihr kreativer Motor. Umso erschrockener ist sie, als nach 25 Jahren die Tochter von Varsky auftaucht und den Schreibtisch als letztes Andenken an ihren Vater zurückfordert. Die New Yorkerin erleidet eine schwere Lebenskrise und reist nach Israel, um sich einen neuen Schreibtisch zu besorgen.

In Israel treffe ich den Schreibtisch nicht und auch nicht mehr die Schriftstellerin, aber einen alten Mann, dessen Sohn zu Besuch ist. Die beiden haben sich lange nicht gesehen, aber auch nichts mehr zu sagen. Der Sohn ist erfolgreicher Anwalt in London, der Vater ebenfalls Anwalt – doch da hören die Gemeinsamkeiten schon auf. Früher wollte der Junge Schriftsteller werden, er schrieb heimlich an einen Roman über ein Monstrum, das an den Schreibtisch erinnert, doch das Unverständnis seines Vaters entmutigten ihn.

Ich unterstütze den Plan nicht, sagte ich dir. Warum?, fragtest du mit zornigen kleinen Augen. Was willst du schreiben?, fragte ich. Du hast mir eine verschlungene Geschichte über vier oder fünf oder sechs oder gar acht Leute erzählt, die alle in Zimmern liegen und mit einem System von Elektroden und Drähten an einen großen weißen Hai angeschlossen sind. Die ganze Nacht treibt der verdrahtete Hai in einem riesigen erleuchteten Becken und träumt die Träume dieser Leute. Nein, nicht die Träume, die Albträume, all die Sachen die schwer zu ertragen sind. So schlafen sie, und durch die Drähte fließen die schrecklichen Sachen aus ihnen heraus in den mordsmäßigen Fisch mit vernarbter Hund, der das ganze gesammelte Elend erträgt. Nachdem du fertig warst, ließ ich ein gutes Maß an Schweigen verstreichen, ehe ich den Mund auftat. Wer sind diese Leute?, fragte ich. Leute eben, sagtest du mit schriller, dann brechender Stimme. Im Quell deiner Augen sah deine Mutter das Leiden eines Kindes, das unter der Knute eines Tyrannen aufgewachsen ist, aber am Ende hatte die Tatsache, dass du nie ein Schriftsteller geworden bist, nichts mit mir zu tun. (S.67)

Letztlich wurde der Sohn Anwalt – ohne zu wissen, dass sein Vater heimlich seine Romanskizzen las und begeistert war. Jetzt steht der Sohn vor der Tür, er hat seinen Job hingeworfen, einfach so und beginnt nachts durch die Straßen zu streifen, wie er es schon als kleiner Junge getan hat. In England findet währenddessen ein Literaturprofessor etwas über ein Geheimnis seiner an Demenz erkrankten Frau, übrigens auch einer Schriftstellerin, heraus. Sie hatte nie viel von ihrer Vergangenheit erzählt und er beließ es dabei, seine Frau hatte ein KZ überlebt, während ihre Familie ermordet wurde. Doch das Geheimnis seiner Frau lässt ihn an seiner Ehe zweifeln. Wo bleibt der heimliche Hauptdarsteller des Ganzen? Sie hat ihren Schreibtisch, unseren – den Schreibtisch (!) – vor langer Zeit an einen jungen chilenischen Schriftsteller verschenkt.

Doch es gibt noch eine vierte Geschichte in Oxford. Isabella verliebt sich in einen Kommilitonen, in Joav. Joav hat eine Zwillingsschwester, die Klavier studiert, und die drei unternehmen viel zusammen und leben dann auch zusammen, doch die Zwillinge sind eine so besondere Einheit, dass Isabella nie richtig dazugehört, obwohl es eine wunderbare Zeit ist:

Ich sage: das Haus, in dem ich mit ihnen zusammenlebte, und nicht: unser Haus, weil ich trotz meines siebenmonatigen Aufenthalts dort nie das Gefühl irgendeiner Zugehörigkeit bekam, noch wurde ich je als etwas anderes betrachetet denn als privilegierter Gast. (S.145)

In den folgenden Monaten begannen wir – Joav, Leah, ich […]-, uns in häusliche Gewohnheiten einzurichten. Leah übte mit großer Hingabe Stücke von Bolcom und Debussy für ihr erstes Konzert im Purcell Room, ich absolvierte meine Zeiten in der Bibliothek, Jav fing an, ernsthaft für seine Prüfungen zu lernen […]. An den Wochenenden liehen wir einen Stapel Filme aus. Wir aßen, wann wir Lust hatten, und schliefen wann wir Lust hatten. Ich war glücklich dort. Manchmal, wenn ich früh vor den anderen aufwachte und, in eine Decke gehüllt, durch die Zimmer wanderte oder in der leeren Küche meinen Tee trank, überkam mich das seltene Gefühl, die immer so erdrückende und unverständliche Welt habe tatsächlich, trotz aller Undurchsichtigkeit, eine Ordnung und ich einen Platz darin. (S.206)

Der Vater der Zwillinge ist Antiquitätenhändler. Und hier treffe ich endlich den heimlichen Hauptprotagonisten wieder. Der Vater der Zwillinge versucht alle Möbelstücke wieder zu beschaffen, die die Gestapo 1944 nach der Verhaftung seiner Eltern, zwangsenteignete und mit dem „Goldzug“ aus Ungarn schaffte. Er geht zu Auktionen, er sichtet Kataloge, er freundet sich mit Möbelrestauratoren an, er ist besessen auf der Suche nach einem Schreibtisch (da isser, das unendlich omnipräsente Monstrum), damit er das ehemalige Arbeitszimmer der Familie rekonstruieren kann.

Das große Haus ist ein spannender Roman, der so viele Facetten hat, wie der ominöse Schreibtisch Schubladen. Fast ist alles etwas zu viel, zu  Teil gehe ich etwas verloren, weiß nicht mehr, in wessen Monolog ich mich gerade befinde, Orientierung ist ohnehin schwierig, Namen werden kaum genannt. Manchmal habe ich das Gefühl, die Geschichte entfaltet sich ohne mich, gibt mir das Gefühl mehr zu sein, als eigentlich dahintersteckt. Gleichzeitig denke ich aber auch: das kommt dir bekannt vor, so ging es doch auch der Schriftstellerin, so ging es doch auch dem Sohn. Doch  sehr viele Spuren bleiben vage, Schubladen bleiben verschlossen, genau wie der Hauptprotagonist Schreibtisch selbst und das ist ziemlich deprimierend:

Es gab ein paar Kratzer, aber sonst keine Spuren von denen, die daran gesessen hatten. (S.375)

Am Ende ist es vielleicht der Antiquitätenhändler, der einen Schlüssel für den Roman liefert. Er erinnert an den Gelehrten Rabbi Jochanan ben Zakkai, der den Grundstein für den Talmud legte und dessen Schule später als „das große Haus“ bezeichnet wurde:

Zweitausend Jahre sind vergangen, pflegte mein Vater mir zu sagen, und heute ist jede jüdische Seele um das Haus herum gebaut, das im Feuer verbrannt ist, so groß, dass sich jeder Einzelne von uns nur an ein winziges Bruchstück erinnern kann: ein Muster an der Wand, einen Ast im Holz einer Tür, eine Erinnerung an den Leichteinfall auf dem Fußboden. Aber wenn alle jüdischen Erinnerungen, die jedes Einzelnen, zusammengebracht und auch das letzte heilige Bruchstück dem Ganzen hinzugefügt würde, könnte das Haus wiederaufgebaut werden, sagte Weisz, oder vielmehr ein so vollkommenes Gedächtnis des Hauses, dass es in seinem Werden das Original selbst wäre. (S.363)

Gedankenblitz: Also ist das große Haus vielleicht auch so etwas wie der Hai von dem Sohn? Oder wie der SchreibtischJa, nein – oder, doch? Und genau so erging es mir die ganze Zeit beim Lesen. War da nicht was? Wie passt das zusammen? Gab es das nicht schon einmal? Wo sind Parallelen? Das große Haus ist ein fordernder Roman, kein Roman der leicht zugänglich ist. Doch auch wenn ich nicht immer alle Wendungen nachvollziehen konnte und viele Schubladen vielleicht auch einfach so angelegt waren, dass ich den Schlüssel ohnehin nicht finden konnte, hat der Roman unglaubliches Suchtpotenzial. Wenn man etwas Zeit und Muße hat, sich auf eine sehr komplexe Geschichte einzulassen, die nicht immer alles einhält, was sie vordergründig vielleicht vorgibt zu sein, ist Das große Haus sicherlich genau das Richtige. Ein Hauch von postmodernem Schreiben nennt man das wohl. Und das ist ziemlich abgefahren!

Nicole Krauss: Das große Haus (=The great House). Übersetzt von Grete Osterwald. Rowohlt Verlag 2011.

ISBN: 447-31081865