Das Debüt der Österreicherin Laura Lichtblau zeigt eine unheimliche Tendenz: Bürgerwehren machen Stimmung. Ein Sturm auf das Reichstagsgebäude? In Lichtblaus Roman auf jedem Fall im Rahmen des Möglichen. Die Radikalisierung der vermeintlich normalen Menschen, die zur Katastrophe führt, wirkt deshalb noch überzeugender. Immerhin ist am Ende nicht alles verloren, so viel kann verraten werden.
Dystopien haben und hatten schon immer eine wichtige Funktion: Sie sind gewissermaßen Stimmungsmesser für gesellschaftliche Entwicklungen, Tendenzen und Diskussionen, sie kritisieren bestehende gesellschaftliche Verhältnisse und wollen die Menschen zum verantwortungsvollen Handeln aktivieren. Laut BBC hat das Interesse an dystopischer Literatur seit den Präsidentschaftswahlen in den USA 2016 einen wahren Aufschwung erlebt: So befinden sich dystopische Klassiker wie George Orwells 1984, Sinclair Lewis’ It Can’t Happen Here, Ray Bradburys Fahrenheit 451 und Brave New World von Aldous Huxley sowie The Handmaid’s Tale von Margaret Atwood unter den meist verkauften Büchern im Januar 2017. Die Weltentwürfe der Dystopie sind also dann erfolgreich und erreichen die Leser*innen, wenn sich die gezeigte Zukunftsvision nicht in einer vollkommen unwahrscheinlichen Realität abspielt, sondern bereits in der außerliterarischen Welt deutlich wird.
Der Roman Schwarzpulver kreist um drei verschiedene Figuren, die die Ereignisse der Rauhnächte, also der Zeit zwischen Weihnachten und Anfang Januar, in kurzen Kapiteln erzählen. Die Rauhnächte gelten seit jeher als Zeit der Hexen, als Phase der Orakelsprüche und sprechenden Tiere, Geister sollen vertrieben werden. Für die Figuren Elisa, genannt Burschi, Charlotte und Charlie ergeben sich in dieser Zeit ganz besondere Herausforderungen.
Burschi, die einen gut laufenden Internethandel mit geklauten Gegenständen betreibt, lernt eine besondere Frau kennen und verbringt einen erotischen Nachmittag mit Johanna. Johanna verschwindet immer wieder, denn sie ist Partisanin und kämpft im Untergrund gegen den Staat. Charlotte Venus, systemtreu und unkritisch, hat sich zur Scharfschützin bei der Bürgerwehr ausbilden lassen und schützt die Grenzen und öffentlichen Plätze, ihr 19-jähriger Sohn Charlie sucht in einem Praktikum bei einem alternativen Musiklabel für Untergrundrap ein Schlupfloch im totalitären System. Burschi und Charlie haben schon lange erkannt, dass der Staat das Problem ist.
„Ich sage dir […], dass die Partei keine Frauen mag, die Frauen lieben. Sie mögen keine Anglizismen, kein fremdländisches Essen, keine Menschen, die glücklich sind, sie mögen keinen Hip-Hop, keine Konzerte auf der Straße, keine Menschen, die aus anderen Ländern stammen, keine Familien ohne Kinder, keine Männer mit Lipgloss, keine Frauen mit Glatze, sie mögen keine Frauen, die erfolgreicher als Männer sind…“
Charlotte distanziert sich erst langsam von den Kolleg*innen, am Anfang agiert sie „zielführend“ und schießt ohne große Gewissensbisse. Sie erinnert sich in ausführlichen Rückblicken an die Entwicklung der Bürgerwehr, an den Zusammenhalt, das gemeinsame Racletteessen, die gemeinsame gesunde Wut gegenüber Kiffern und Schmarotzern, die doch nur die gutbürgerliche Ordnung stören. Wie belastend der Job als Scharfschützin ist, zeigt sich im wiederkehrenden Alkoholkonsum der Protagonistin und ihren Zweifeln, die sich langsam einstellen.
Besonders eindrücklich zeigen sich die dystopischen Elemente gerade dann, wenn die Leser*innen den Eindruck gewinnen, dass einige geschilderten Figuren wie Abziehbilder der Hygienedemos wirken. Hundezüchter, die sich über Rassegesetze auslassen, Parteifunktionäre, die Reden darüber schwingen, dass man Single-Frauen doch über Datingportale verpartnern könne, damit es mehr Schwangerschaften gibt und die allgengewärtige Angst davor, dass in Berlin bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten. Weicht jemand vom patriarchalen Familiensystem ab, wird die Kommission für Volksgesundheit aktiv, die alle „Abweichler“ umerziehen will. Auch Burschi wird aus ihrer WG fliegen, denn ihre Mitbewohner*innen haben Angst, denn alles was zu feministisch oder queer daherkommt, soll aus dem Stadtbild gestrichen werden. In der Konstruktion des autoritären Staatsapparates ist alles dabei, was in den letzten Jahren (und wahrscheinlich schon immer) an völkischer, rassistischer, homophober und frauenfeindlicher Propaganda so am Start ist. Lichtblau fängt diese aktuellen Momente ein und verwebt sie in ein Netz in ihrer Dystopie, die in einer unglaublich schönen, zarten und auch witzigen Sprache daherkommt. Als Charlotte, die irgendwann die Situation nicht mehr aushält „außer Rand und Band gerät“, bleibt ihr nur noch die Psychiatrie als letzter Zufluchtsort.
Der „langsam entstehende Aufruhr“, der sich im letzten Satz des Romans andeutet, kann eine Hoffnung sein. Vielleicht kann Lichtblaus deutschsprachige Dystopie Schwarzpulver einmal in einem Atemzug mit Juli Zehs Dystopie Corpus Delicti genannt werden, beide Romane laden auf intelligente Weise zum Nachdenken und Diskutieren ein. Zugunsten der Konstruktion des Systems und der literarischen Welt wirken einige Figuren eher klischeehaft. Das ist vielleicht aber auch ein gängiges Problem des Genres, in dem häufig jemand aufwachen muss, der zunächst das autoritäre System unterstützt. Das Schwarzpulver verweist übrigens auf das explosive Material in einer Schusswaffe und damit direkt auf das angedeutete Ende des Romans.
Vor wenigen Jahren hat sich die amerikanische Autorin Meg Wolitzer mit dem Roman Die Interessanten in meinen persönlichen Olymp der Lieblingsbücher geschrieben. Es geht um sechs Teenager, die sich in einem Sommercamp für kunstbegabte Jugendliche treffen. Ein fantastisches Buch. Entsprechend hoch waren meine Erwartungen an Wolitzers neuen Roman Das weibliche Prinzip, in dem Wolitzer nicht nur über Macht und Emanzipation schreibt, sondern auch von enttäuschten Erwartungen und Generationskonflikten. Eine spannende Mischung.
Greer Kadetzky ist eine sehr talentierte junge Frau, die eigentlich auf ein Ivy-League-College gehört hätte. Dass alles anders kommt als geplant, liegt an ihren Hippie-Eltern, die neben dem täglichen Graskonsum leider nicht dazu kommen, fristgerecht ein Studiendarlehen für ihre Tochter zu beantragen. Sie begnügt sich mit dem mittelklassigen College vor Ort und wohnt zuhause, mit ihrem Freund Cory führt sie fortan eine Fernbeziehung. Auf einer Party wird Greer von einem Typen bedrängt. Sie ist nicht die einzige. Als sie sich mit den anderen Opfern der Belästigungen zusammenschließt und gegen ihn aussagt, passiert – nichts. Wie leider viel zu oft.
Die bekannte Feministin, Aktivistin und Herausgeberin einer Zeitschrift, Faith Frank, hält an Greers College einen Vortrag. Faith ist mutig, stellt die richtigen Fragen und kann das Publikum begeistern. Auch wenn sie keinen genauen Plan mehr von den aktuellen Problemen hat, die ihr Publikum der unter 30-jährigen betrifft (unsichere Jobperspektiven, Befristungen, Backlash, you name it), ist die 60-jährige ein gern gesehener Gast. Greer ist hingerissen. Während der Podiumsdiskussion stellt Greer Faith entscheidende Fragen: Was kann konkret gegen Belästigungen unternommen werden und wie können sich Frauen überhaupt in einer männerdominierten Welt durchsetzen. Eigentlich wäre es die Frage von Zee gewesen, Greers besten Freundin, die sich schon seit Jahren in feministischen Kontexten bewegt. Aber Greer ist schneller oder das Schicksal will es eben so.
Es ist ein Zufall, dass sich Faith nach langer Zeit wieder an Greer erinnert und ihr eine Stelle in einer neugegründeten Stiftung für Frauenrechte anbietet. Das ist für Greer, die Faith heiß und innig verehrt, wie ein Ritterschlag. Einen anderen Job hätte sie ohnehin nicht bekommen, zu schreiben wäre die einzige Möglichkeit.
Greer stellte sich inzwischen vor, Schriftstellerin zu werden. Sie malte sich aus, Essays und Artikel, irgendwann vielleicht sogar Bücher mit feministischem Schwerpunkt zu schreiben, obwohl sie anfangs sicher am späten Abend würde schreiben müssen. Sie bräuchte ein Einkommen, mit dem sie das Schreiben finanzieren konnte. Sie wollte kein Leben wie ihre Eltern führen. Aber wenn sie einen richtigen Job hätte, also nicht in Armut abrutschen würde, könnte sie versuchen, in ihrer freien Zeit zu schreiben, und vielleicht hätte sie ja ein Quäntchen Glück. (S.90)
Greer beginnt in der Stiftung, auch wenn die Bezahlung noch zu wünschen übrig lässt. Während sie sich mit großem Engagement auf ihre erste feste Stelle in New York stürzt, wird Cory als Wirtschaftsberater nach Manila geschickt. Nicht nur die Beziehung von Greer und Cory bröckelt, Greer hat sich auch den Einstieg in die Arbeitswelt etwas anders vorgestellt.
Genau wie in ihrem Roman Die Interessanten gelingt es Wolitzer, sehr komplexe und authentische Figuren zu entwerfen, deren Lebenswege sich zwar rund lesen, aber doch eher in einem sehr ruhigen Erzähltempo durch das Buch plätschern. Während Faith und Greer, zwei ambitionierte Frauen aus verschiedenen Generationen, versuchen, dem großen Ziel der Gleichberechtigung ein Stückchen näher zu kommen, sorgt individuelles Machtstreben danach, dass von Solidarität und einer großen gemeinsamen Sache wenig übrig bleibt. Auf dem Weg zu mehr Einfluss und mehr Macht gehen Faith und Greer Kompromisse ein und entfernen sich massiv von ihren Idealen. Die Start-Up-Mentalität in Faiths Stiftung hat einen Konformitätszwang zur Folge, in dem sogar das Privatleben auf die Bedürfnisse der Chefin Faith abgestimmt werden. Greer gibt alles und noch mehr für einen Job, in dem sie letztlich ausgebeutet wird. Das geht sogar soweit, dass die Vegetarierin Greer vorgibt, Fleisch zu mögen – nur um der Chefin zu gefallen, die die Kolleginnen der Stiftung zu einem Grillabend eingeladen hat. Aber auch Faith kann nicht so selbstbestimmt handeln, wie sie es sich vielleicht gewünscht hat, damals, als es noch Ideale gab. Ihre Stiftung wird am Ende eine Mogelpackung, die das Charitybedürfnis der reichen, weißen Oberschicht bedient. Und auch Cory hat es nicht leicht. Dem strahlenden Absolventen fällt die Realität auf die Füße, als er sich mit einer sehr schwierigen Entscheidung konfrontiert sieht.
Meg Wolitzer hat schon in ihrem Essay „The second shelf“ feministische Themen aufgegriffen, zum Beispiel die Diskriminierung schreibender Frauen auf dem Literaturmarkt. Trotz so deutlicher Aussagen in ihrem Essay, bleibt der Roman zum Thema an vielen Stellen sehr vage. Ich war nicht davon ausgegangen, einen Kommentar zu #metoo oder sexistischen Strukturen in der Arbeitswelt zu bekommen, trotzdem hatte ich das Gefühl, da wäre manchmal noch eine klarere Positionierung möglich gewesen. Hätte man einen Roman zum Thema schreiben wollen. Der Text entzieht sich solchen Kategorisierungen, weil er auf das Figurenensemble bezogen, am Ende sogar das Ausnahmetalent Cory mit einem schwierigen Schicksalsschlag versieht, der ihn automatisch in die Rolle des Kümmerers drängt – und damit nicht mehr attraktiv für die Damenwelt macht. Jede noch so kleine Figur wird ausführlich mit ihren Fehlern und Schwächen dargestellt. Das war bei den Interessanten ein großer Pluspunkt, hier wird es mir manchmal ein wenig zu viel. Trotzdem habe ich den Roman sehr gerne gelesen, denn durch jede Zeile schimmert das Talent der Autorin, gesellschaftliche Strömungen der Zeit in eine Geschichte zu gießen, die sich leicht lesen lässt. Ein #Aufschrei ist dieser Roman allerdings nicht.
Ich bedanke mich bei vorablesen.de und Dumont für das Rezensionsexemplar!
Weitere Besprechungen findet ihr hier:
Silvia von LeckereKekse hat ihre Eindrücke in einem Lesetagebuch festgehalten
I’ve lived through ten iOS upgrades on my Mac – and that’s just something I use to muck about on Twitter. Surely capitalism is due an upgrade or two?
In Moranifesto versammelt Caitlin Moran, Kolumnistin der Times, unterschiedliche Artikel, die sie bisher geschrieben hat und komplett neues Material. Moranifesto besteht aus vier Teilen. Im ersten Teil beschreibt sie die britische Gesellschaft, im zweiten Teil drehen sich ihre Essays um Feminismus und im dritten Teil geht es auch um politische Fragestellungen, die dann in einem eigenen Manifest, einem Moranifest, enden. Und wenn ich das so beschreibe, stimmt das eigentlich gar nicht. Moran schreibt, wie in ihrem Bestseller How to build a girl, sehr persönliche und unglaublich witzige Begebenheiten aus ihrem Leben, die sie dann mit den vermeintlich großen Themen verknüpft. Sehr lässig und mit einer Menge „attitude“. Es geht um Bacon, High Heels, Lena Dunham, Blasenentzündung, Bowie und Moms, die eigentlich als Superhelden gefeiert werden müssen. Es geht aber auch um Gentrifizierung in London, Flüchtlinge, Starbucks und wie verkehrt die britischen Medien Menschen darstellen, die von Sozialhilfe leben und die ständige Frage danach, was der Kapitalismus heute eigentlich noch kann. Popkultur und Politics eben.
Moran schreibt sehr persönlich und berichtet auch immer wieder aus ihrer Kindheit. Zum Beispiel, wie sie die Jahre der Thatcher Regierung erlebt hat und wie es für sie war, mit acht Geschwistern und einem arbeitslosen Vater „on benefits“ zu leben. Einerseits. Andererseits betrachtet sie die Bedingungen unter denen sie aufgewachsen ist, als Folie für ihre politischen Auseinandersetzungen und die bestimmen viele ihrer Essays. Das ist lustig, denn sie selbst hätte sich früher nie als politisch denkender Mensch bezeichnet. Aber sie macht deutlich, wie selten es jemand wie sie, in das Berufsfeld der Kolumnistin schafft. Mit der Folge, dass die Perspektiven in Fernsehshows oder in Magazinen sehr einseitig sind. Denn die meisten Menschen, die in der londoner Medienlandschaft arbeiten, sind weiße Männer, die eine Ausbildung an Elitecolleges vorweisen können und die ihre Perspektive (ignorance is bliss) für die „normale“ Sicht der Dinge halten. Mittlerweile schreibt Moran seit mehreren Jahren für die Times, mit 16 begann sie als Musikjournalistin. In dieser Hinsicht ist sie ihrer Titelheldin aus All about a girl (die übrigens auch mit ihrer mehrköpfigen Familie von Sozialhilfe lebt) sehr ähnlich. Weil ein Großteil des Moranifests eben auch ein Aufguss schon bestehender Kolumnen ist, fehlen mir dann häufig die Anknüpfungspunkte, weil ich nicht alle Bezüge kenne und die wenigsten Fernsehshows, die erwähnt werden (von Sherlock & Girls mal abgesehen).
Nichtsdestotrotz macht das Moranifesto unglaublich viel Spaß, weil es mit sehr viel Leidenschaft und Witz geschrieben wurde und clevere Beobachtungen und entsprechende Schlussfolgerungen zieht. Harte Themen wie V*rg*w*ltigung, Genitalverstümmelung von Mädchen oder der Krieg in Syrien werden neben den vielen fluffigen Popreferenzen aber keineswegs ausgespart. Und natürlich geht es ihr dabei besonders um die Bewertung, Abwertung und Kategorisierung von Frauen.
Stichwort Empowerment. Denn sie schreibt auch für die Mädchen, die jetzt 13 Jahre alt sind und sich in einer ähnlichen Situation befinden, wie sie früher gewesen ist. Der Essay To Teenage Girls on The Edge ist super und hat mich wirklich beeindruckt.
And since we were teenage girls — since the moment we went, mortified, to buy that first bra, and left the safe, unisex world of childhood to become „a woman“ — we’ve been judged and commented on. Catcalls in the streets; relatives saying we’re too fat or too thin. Comments in yearbooks and on Facebook; hairdressers saying, „You have a mannish jaw.“ „Uncles“ at weddings, and bosses at parties, and friends of friends, rating you to your face — saying if they „would“ or „wouldn’t,“ scoring you out of ten, as if you’re a gadget for sale on Amazon, or livestock at a fair.
Mich hat Moran mit ihrem persönlichen Manifest sehr beeindruckt. Vor allen Dingen auch, weil sie an vielen Stellen darüber schreibt, dass sie eine begeisterte Leserin ist (ein Essay trägt den Titel: Reading is fierce!). Und weil mir ihre Gedanken so gefallen, hier noch mein Lieblingszitat:
„With a book, you are the landscape, the sets, the snow, the hero, the kiss — you are the mathematical calculation that plots the trajectory of the blazing, crashing zeppelin. You — pale, punchable reader — are terraforming whole worlds in your head, which will remain with you until the day you die“.
Kaitlin Moran hat bei mir einen Nerv getroffen und sicherlich auch mein Herz. Ich würde gerne mit ihr in einem Pub ein Bier trinken und wir würden keine Highheels tragen, weil darauf sowieso kein Mensch laufen kann und dann würden wir über Benedict Cumberbatches Kinn reden und ihr geniales Interview mit ihm, bei dem sie versehentlich am falschen Haus klingen wollte oder wir würden darüber sprechen, ob Drucker wirklich so böse sind, wie sie glaubt und über Bowie, definitiv über Bowie.
Im Januar 2013 rappelt’s im Karton und zwar so richtig. Unter #Aufschrei sammeln Frauen ihre Erfahrungen mit Alltagssexismus, berichten von sexuellen Übergriffen und V*rg*w*ltigungen. Initiiert wurde der Tweet von Anne Wizorek (@marthadear), die sich mit anderen Twitternutzer_innen (@faserpiratin, @vonhorst) austauschte und spontan den Hashtag am 25. Januar um 0.13 in der Nacht festlegte. Noch in der Nacht beteiligen sich tausende andere Betroffene, berichten über „das komplette Ausmaß von Sexismus und sexualisierter Gewalt“ (S:188):
@KhaosKobold: Der Mathelehrer, der mir sagte ich bräuchte das nicht verstehen, ich würde eh mal Mutti mit Abitur #aufschrei
@totalreflexion: Der Schwimmlehrer, der alle Mädchen im Kurs zur Begrüßung auf den Mund küsste – die jeweils jüngste mit Zunge #aufschrei
Danach geht alles relativ schnell, bereits am nächsten Morgen hat Anne Wizorek Anfragen von Journalist_innen und kurz darauf eine Einladung zu Günther Jauchs Sendung im Briefkasten. Der Hashtag war ein absoluter Erfolg und macht sichtbar, was viele nicht wissen wollten: das Sexismus und sexuelle Übergriffe auch in Deutschland zur Tagesordnung gehören. Damit schaffte der Hashtag etwas außerordentliches: eine online geführte Debatte wurde in die offline-Welt überführt und ernst genommen. Die Jury des Grimme Online Awards würdigte den Hashtag und seine Verfasser_innen. Jetzt hat Anne Wizorek ein Buch geschrieben, indem sie sich für einen „Feminismus von heute“ ausspricht und deutlich macht, dass viele Probleme noch lange nicht gelöst sind. In ihrem Buch räumt Wizorek mit vielen Mythen auf, die in der medialen Wahrnehmung immer noch bestehen: nein, Rainer Brüderle war nicht „der“ Auslöser für den Hashtag und nein, niemand muss Emma-Leser_in sein, um Feminismus gut finden zu können. „Den“ Feminismus, und das wird sehr schnell klar, gibt es sowieso nicht (das macht auch ein historischer Abriss über feministische Entwicklungen deutlich) – und Alice Schwarzer ist nicht das Maß aller Dinge.
Ihr Buch besteht aus zwei Teilen und die Aufschrei-Debatte, die ich damals mit großem Interesse verfolgt habe, steht nicht am Anfang der Auseinandersetzung. Stattdessen beschreibt Wizorek auf den ersten 150 Seiten eine umfassende, fundierte und locker geschriebene Einführung in die unterschiedlichsten aktuellen feministischen Debatten, die momentan online geführt werden. Sie räumt mit den vermeintlichen Mythen der Geschlechtergerechtigkeit auf („Aber wir haben doch eine Bundeskanzlerin!?!“), stellt dar, warum eine Quote wichtig ist, schreibt über sexuelle Selbstbestimmung, repressive Schönheitsideale mit einem super Schwenk zu Beyoncé (Yeah!), die Care-Debatte und LGBTIQ. Und das geht ihr so locker von der Hand, dass ich manchmal fast vergesse, wie ernst das Thema eigentlich ist:
Solange wir ein patriarchalisches Gesellschaftssystem haben, befinden wir uns in puncto Geschlechtergerechtigkeit aber meist zwischen Babyschritten vorwärts und Backlash, der uns wieder zurückschleudert. Der Backlash (zu deutsch etwa „Rückschlag“) ist sozusagen der Darth Vader zur feministischen Rebellion. Denn sobald sehr viele Menschen gesellschaftliche Fortschritte einfordern oder diese Veränderungen sogar durchgesetzt werden können, wird es immer auch viele Menschen geben, die an der Uhr drehen und diese auf ,die guten alten Zeiten‘ mit konservativen Wertvorstellungen zurückdrehen wollen. (S.23)
Wizoreks Buch ist nicht nur eine sehr gelungene Einführung in die aktuellen (netz-)feministischen Debatten, die durch eine umfangreiche Linkliste illustriert werden, sondern vor allen Dingen auch ein sehr unterhaltsame Kritik am gesellschaftlichen Backlash, der feministische Entwicklungen, die vor einigen Jahren noch als selbstverständlich galten, heute wieder in Frage stellt. Beispielsweise wenn Frauen, die die Pille danach nehmen als rücksichtslos, naiv und leichtsinnig dargestellt werden („Man muss es immer wieder sagen: Das sind keine Smarties!“ Jens Spahn, CDU via twitter am 13. Januar 2014). Als wären Frauen nicht in der Lage dazu rationale Entscheidungen zu treffen, wenn es um ihre Verhütung und damit ihre Selbstbestimmung geht. Eine solche Haltung geht natürlich wunderbar mit der Auffassung einer neuen Bewegung radikaler christlicher Lebensschützer_innen einher. In einem sehr ausführlichen Kapitel über sexuelle Übergriffe und Sexismus wird nicht nur mit dem Strohmann-Argument der ominösen Falschbeschuldigungen durch v*rg*waltige Frauen aufgeräumt, es werden auch die unterschiedlichsten Vorfälle der letzten Monate und Jahre aufgerollt, die sich um sexuelle Übergriffe oder ihre Verharmlosung drehen: Kachelmann, Assange, ,Steubenville‘, die Debatte um Blurred Lines von Robin Thicke und der V*rg*waltigungs-„Witz“ von Moderator Klaas in der Sendung NeoParadise.
Einen ziemlich ausführlichen Teil widmet Wizorek auch ihrer eigenen Haltung und ihrer eigenen Entwicklung hin zum Feminismus. Auch wenn die anderen Kapitel weitaus pointierter erscheinen mögen, hat mir dieser Teil besonders gut gefallen. Stichwort: Empowerment.
„Was ich mit alldem sagen möchte, ist: Es braucht nicht erst einen Master in Gender-Studies, um Feminist_in zu werden (auch wenn der Master nicht schadet).“ (S.241)
Weil ein #aufschrei nicht reicht ist kein Buch, das ich in einem Zug durchlesen konnte. Zwischendurch brauchte ich ein paar Pausen – nicht nur, weil es auf Dauer auch sehr anstrengend sein kann, von den vielen Dingen zu lesen, die eben noch nicht richtig laufen, vor allem aber auch, weil mir jedes Kapitel sehr viel Input zum Nachdenken gegeben hat. Da war Kapitel 12 ziemliches großes Kino, in dem unterschiedliche Strategien vorgestellt werden, wie am besten mit Sexismus oder schwierigen Diskussionen umgegangen werden kann (Stichwort: Choose your battles). Auf den Punkt gebracht: Es ist nicht deine Aufgabe, jetzt immer und überall für eine feministische Perspektive aufzustehen – und manchmal kann man das auch einfach nicht und ist frustriert von so viel Unwissen und genervt von Provokationen und dem tausendsten „sich-Erklären-müssen“. Interessant war auch die klare Forderung an männliche* Unterstützer, die vielleicht zunächst als etwas provokant daherkommt, mich allerdings an den Critical Whiteness-Ansatz erinnert: „Setz dich mit deiner Schuld auseinander“. Wenn Rassismus und Sexismus als strukturelle Problematiken angesehen werden, ist diese Forderung auch nur eine logische Konsequenz.
Weil ein #aufschrei nicht reicht – Für einen Feminismus von Heute ist das erste Buch, das ich über den „Twitter“-Feminismus gelesen habe. Sonst bin ich eher auf Blogs, bei Twitter, bei YouTube unterwegs. Es ist super geschrieben und für jeden, der eine kleine Einführung in den aktuellen (Netz-)Feminismus braucht, unbedingt zu empfehlen. Die Aktualität der gesamten Debatte steht dabei außer Frage. Seit einiger Zeit sehe ich sehr gerne die Vlogs von der amerikanischen Kommunikationswissenschaftlerin Anita Sarkeesian (feministfrequency), die sich auf Youtube mit stereotypen Darstellungen von Frauen in Videospielen beschäftigt und zu Frauendarstellungen in der Popkultur forscht. Ein Thema das Wizorek immer wieder in ihrem Buch aufgreift. Im Oktober 2014 drohten Unbekannte mit einem „School Shooting“, weil Sarkeesian zu einem Vortrag an der Utah State University eingeladen war. Weil die Polizei keine Möglichkeit hatte, das Mitführen von Waffen zu verhindern (so was geht in Utah), musste Sarkeesian den Vortrag absagen.
Anne Wizorek: Weil ein #aufschrei nicht reicht. Für einen Feminismus von Heute. 2014.
Vielen Dank an lovelybooks für das Rezensionsexemplar und die schöne Leserunde.
Inspiriert durch den gestrigen Beitrag über Frauen in der Kunst, habe ich mich kurzerhand entschlossen, heute den Essay Ein eigenes Zimmer von Virginia Woolf zu lesen, der 1929 erschien und zu den meist zitierten Texten der Frauenbewegung gehörte. Der Essay ist ein Zusammenschnitt von zwei Vorträgen, die Woolf 1928 am Girton College und am Newnham College hielt, den beiden ersten britischen Colleges für Frauen. In ihrem Essay beschreibt Woolf nicht nur die Rolle von Schriftstellerinnen in der Literaturgeschichte, sondern stellt auch eigene Überlegungen hinsichtlich der Geschlechterdifferenz und damit verbundenen unterschiedlichen poetischen Zugängen zur selbstgeschriebenen Literatur, die ihrer Meinung nach, Frauen und Männer haben und verbindet diese Überlegungen auch mit politischen Vorstellungen über Geschlechtergerechtigkeit. Außerdem habe ich vor kurzem auch The Hours gesehen – und Nicole Kidman als Virginia Woolf gar nicht erkannt. Aber Stimmen kann ich mir ganz gut merken und ihre Synchronstimme war der einzige Hinweis, den ich hatte. Der Film hat mir gefallen, es werden drei unterschiedliche Frauenschicksale miteinander verknüpft – das Leben von Woolf mit ihrem Ehemann 1923, das Leben von Laura Brown, die 1951 eine Geburtstagsparty für ihren Mann vorbereitet und das Leben von Clarissa Vaughan in der Gegenwart, die für ihren an Aids erkrankten Freund eine Preisverleihungsparty (er ist Schriftsteller) vorbereitet. Die Handlungen werden durch unterschiedliche Elemente verknüpft, ohne zu viel zu verraten, ist ein Element auch der Roman Mrs. Dalloway von Woolf, an dem die Schriftstellerin gerade arbeitet und den Laura gerade liest. Außerdem werden, wie in Mrs. Dalloway, 24 Stunden aus dem Leben der Frauen gezeigt. Mein Interesse an Virginia Woolf war also geweckt und Ein eigenes Zimmer ist der erste Text, den ich von ihr gelesen habe.
Ich habe einfach ein paar Stellen gesammelt, die ich wichtig fand – allerdings ziemlich unvollständig. Ich möchte hier ja keine Abhandlung für die Uni schreiben. Also los. ;)
Das eigene Zimmer ist eine zentrale Vorstellung, die immer wieder aufgerufen wird und um die Woolf ihren Vortrag konzipiert:
Ich kann Ihnen lediglich eine Meinung zu einer Nebensache anbieten – eine Frau muß Geld und ein eigenes Zimmer haben, um schreiben zu können; und das läßt, wie Sie sehen werden, die große Frage nach der wahren Natur der Frau und der wahren Natur der Literatur unbeantwortet. (S.9)
Virginia Woolf nimmt während des Essays die Erzählperspektive von vier poetischen Figuren ein, sie wählt interessanterweise die vier Marys aus einer schottischen Ballade, die Maria Stuart am Abend ihrer Hinrichtung (!) begleiten. Gesungen wird die Ballade aus der Perspektive der Mary Hamilton, die ihre Gefährtinnen vorstellt: „Yestre’en the queen had four Marys;/ This night she’ll have but three;/ There was Mary Beaton and Mary Seaton/ Mary Carmichael and me.“ Ein ziemliches makabres Setting, oder nicht? Eingeleitet wird der Essay mit einem fiktiven Erlebnis in Oxbridge: Woolf geht über den Rasen, statt über den Kies, wie es sich für eine anständige Frau gehört:
Augenblicklich erhob sich die Gestalt eines Mannes, um mir den Weg abzuschneiden. Anfangs verstand ich gar nicht, daß das Gestikulieren des seltsam aussehenden Ungetüms in Gehrock und Frackhemd an mich gerichtet war. Sein Gesicht drückte Entsetzen und Entrüstung aus. Instinkt, nicht Vernunft kam mir zur Hilfe; er war ein Pedell, ich war eine Frau. Dies war der Rasen, dort war der Weg. Hier sind nur die Fellows und die Gelehrten zugelassen; mein Ort war der Kies. (S.11)
Und ihr Spaziergang führt sie noch weiter, denn eigentlich möchte sie auch die Bibliothek besuchen, doch das darf sie nicht, zumindest nicht ohne Begleitung:
[…] aber hier stand ich tatsächlich vor der Tür, die in die Bibliothek selbst führt. Ich muß sie geöffnet haben, denn augenblicklich erschien, wie ein Schutzengel mit einem Geflatter schwarzen Talars statt weißer Flügel den Weg versperrend, ein abwehrender, silbriger, freundlicher Herr, der, indes er mich fort winkte, mit leiser Stimme bedauerte, daß Damen nur Zutritt zu der Bibliothek haben, wenn sie von einem Fellow des College begleitet werden oder ein Empfehlungsschreiben vorweisen. (S.13)
Die Geschichte erscheint aus heutiger Perspektive wahnsinnig absurd, die Frau darf nur den vorgegebenen Weg gehen und in die Bibliothek darf sie auch nicht? Zurecht regt Virginia sich darüber auf, merkt aber, dass sie nichts ändern kann: „Daß eine berühmte Bibliothek von einer Frau verflucht worden ist, bleibt einer berühmten Bibliothek vollkommen gleichgültig.“ (S.13) Im Anschluss an diese Szene beschreibt sie eine Einladung zum Essen, es gibt Seezunge, Dammhirsch, Rebhühner – es wird geschlemmt, zumindest in dem von Männern besuchten College. Abends führt ihr Weg sie in das fiktive Frauencollege Fernham, sie nimmt am Abendessen teil, sie isst „schlichte Brühsuppe“ mit „nichts darin, was die Phantasie anregte“ (S.22). Das reicht zum Überleben, ist aber kein Festmahl und steht aber im krassen Gegensatz zum vorherigen College:
Zum Glück hatte meine Freundin, die Naturwissenschaften lehrte, einen Schrank, in dem es eine gedrungene Flasche und kleine Gläser gab – (aber erst einmal hätte es Seezunge und Rebhuhn geben sollen) -, so daß wir uns ans Feuer setzen und einige Schäden unserer Verpflegung beheben konnten. (S.23)
Ausgehend von den „beobachteten“ Unterschieden, stellt Woolf fest, dass das größte Problem ist, dass es den Frauencolleges an Geld fehlt und an reichen Geldgeber_innen, die ein Interesse daran haben, dass Frauen sich bilden können. Deshalb fehlt es an Rebhühnern, an Dienern, an Gesellschaftsräumen, die den Männern ohne Frage zur Verfügung stehen. Woolf und ihre Freundin empören sich über die „schändliche Armut ihres Geschlechts“ (S.25).
Was hatten unsere Mütter damals getrieben, daß sie uns keine Reichtümer hinterlassen konnten? Sich die Nase gepudert? Schaufenster betrachtet? In Monte Carlo die Sonne genossen? (S.25)
Nichts dergleichen, ihre Mütter haben Kinder bekommen, manchmal zwölf oder dreizehn und hatten deshalb keine Zeit, Geld zu verdienen – wenn sie es denn überhaupt durften. Denn nach den gesetzlichen Regelungen, durften Frauen auch kein Vermögen besitzen, es gehörte stattdessen den Ehemännern. Deshalb gibt es auch kaum Collegestifterinnen, denn ein Vermögen um ein College zu finanzieren – ein eigenes Zimmer, ist eben nicht vorhanden gewesen. Deswegen, so folgert Woolf, blieben Frauen jahrhundertelang außen vor:
[…] und ich dachte, wie unangenehm es ist, ausgesperrt zu sein, und ich dachte, wie viel schlimmer es vielleicht ist, eingesperrt zu sein, und bei den Gedanken an die Sicherheit und den Wohlstand des einen Geschlechts und an die Armut und die Unsicherheit des anderen und an die Wirkung der Tradition oder des Mangels an Tradition auf den Geist eines Schriftstellers oder einer Schriftstellerin dachte ich schließlich, daß es Zeit war, die verschrumpelte Haut des Tages mit ihren Überlegungen und ihren Eindrücken und ihrem Zorn und ihrem Gelächter abzustreifen und unter eine Hecke zu werfen. (S.29)
Woolf macht sich auf ins Britische Museum um Nachforschungen über Frauen und Literatur anzustellen und stellt fest, dass zwar unglaublich viele Männer über Frauen schreiben, aber es verschwindend wenig Frauen gibt, die schreiben.
Haben Sie eine Vorstellung, wieviele Bücher über Frauen im Laufe eines einzigen Jahres geschrieben werden? Haben Sie eine Vorstellung, wieviele von Männern geschrieben sind? Ist Ihnen bewußt, daß Sie vielleicht das am häufigsten abgehandelte Tier des Universums sind? (S.31)
Und dazu noch ein sehr interessantes „Tier“, immerhin schafften es die unterschiedlichsten Wissenschaftler und Gelehrten ganze Abhandlungen über Frauen zu verfassen, die Woolf munter zitiert: Frauen wären „allermeist völlig charakterlos“, „unfähig“, hätten keine Seele oder eben doch eine Seele, da sie die Verbindung zur Natur darstellten und überhaupt wären Frauen „geistig, sittlich und körperlich dem Mann unterlegen“. Nach einem spontanen Wutanfall und einer Karikatur des Verfassers, versucht Woolf der Frage nachzugehen, warum sich die Männer in diesen Aufsätzen so herablassend und abwertend verhalten und kommt zu dem Schluss, dass es vor allen Dingen darum geht, die eigene Machtstellung, den Status Quo zu behalten, der allein dadurch gerechtfertigt werden kann, dass Frauen abgewertet werden:
Frauen haben seit Jahrhunderten als Spiegel gedient, Spiegel mit der magischen und erhebenden Kraft, die Gestalt des Mannes in doppelter Größe wiederzugeben. Ohne diese Kraft wäre die Erde wahrscheinlich immer noch Sumpf und Urwald. […] Das Spiegelbild ist von größter Wichtigkeit, denn es lädt die Lebenskraft auf; es regt das Nervensystem an. Nimm es fort, und ein Mann kann sterben, wie der Drogensüchtige, dem sein Kokain entzogen wird. Unter dem Bann dieser Illusion, dachte ich, aus dem Fenster schauend, schreitet die Hälfte der Menschen auf dem Bürgersteig zur Arbeit. […] Sie beginnen den Tag zuversichtlich, gestärkt, überzeugt, sie seien auf Miss Smiths Teegesellschaft hochwillkommen; sie sagen sich, während sie das Zimmer betreten, ich bin der Hälfte der Menschen hier überlegen, und so kommt es, daß sie mit jenem Selbstvertrauen, jener Selbstsicherheit sprechen, die so tiefgreifende Folgen für das öffentliche Leben gehabt und zu so seltsamen Randnotizen im privaten Bewußtsein geführt haben. (S.40)
Virginia Woolf glaubt aber nicht daran, dass Frauen und Männer unterschiedliche Fähigkeiten hätten. Stattdessen stellt sie sehr optimistisch fest, dass in hundert Jahren Frauen Lokomotivführerinnen sein können oder Soldatinnen oder Matrosinnen, denn erst wenn Frauen nicht mehr das „beschützte“ Geschlecht sind, werden sie sich „logischerweise an allen Betätigungen und Anstrengungen beteiligen, die ihnen einst versagt waren“ (S.44). Und das gilt auch für den Bereich der Literatur. Woolf erfindet Shakespeares Schwester, eine ebenso talentierte Dichterin wie er. Doch sie hatte kaum Möglichkeiten ihr Talent unter Beweis zu stellen, was nützte es ihr, Schreiben zu können? Nichts, denn sie hatte keinen Zugang zu Bildung und niemanden, der an ihr Talent geglaubt hat, stattdessen wäre es eher wahrscheinlich, dass sie im 16. Jahrhundert mit dieser gr0ßen Begabung „ganz gewiss wahnsinnig geworden wäre, sich erschossen hätte oder in einer einsamen Kate außerhalb des Dorfes geendet wäre, halb Hexe, halb Zauberin, gefürchtet und verspottet.“ (S.52) Doch alle Dichter waren Schwierigkeiten ausgesetzt, nur sieht Woolf, dass Frauen aufgrund der gesellschaftlichen Gegebenheiten, noch viel mehr zu kämpfen hatten:
Zuerst einmal war ein eigenes Zimmer – gar nicht zu reden von einem ruhigen Zimmer oder einem schalldichten Zimmer – ganz undenkbar, wenn ihre Eltern nicht außerordentlich reich oder sehr vornehm waren, sogar noch zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. Da ihr Nadelgeld, das vom guten Willen ihres Vaters abhing, gerade für die Sachen, die sie am Leib trug reichte, blieben ihr Erquickungen verwehrt, die sogar Keats oder Tennyson oder Carlyle, alles arme Männer, sich gönnten, wie eine Wanderung, eine kleine Reise nach Frankreich oder eine eigene Unterkunft, die sie, bei aller Ärmlichkeit gegen die Ansprüche und Tyranneien ihrer Familie schützte. Solche materiellen Schwierigkeiten waren fatal; aber viel schlimmer waren die immateriellen. Die Gleichgültigkeit der Welt, die Keats und Flaubert und andere geniale Männer so unerträglich fanden, war in ihrem Fall nicht Gleichgültigkeit, sondern Feindseligkeit. Die Welt sagte zu ihr nicht, wie sie zu ihnen sagte: Schreib, wenn du magst; mir ist das einerlei. Die Welt sagte mit einem Hohnlachen: Schreiben? Wozu soll deine Schreiberei nützlich sein? (S.56)
Abgesehen von diesen Schwierigkeiten denen Schriftstellerinnen begegneten, geht es Woolf besonders um die Wertschätzung von Literatur, die aus dezidiert „weiblicher Perspektive“ geschrieben ist. Sie feiert Jane Austen und ihre Romane, besonders Sense andSensibility. Ich habe vor kurzem Emma gelesen und war mir immer noch nicht sicher, was ich von diesem Roman halten soll. Emma ist keine sympathische Figur, die Handlung plätschert viel vor sich hin, das meiste passiert im Salon, wenn alle zusammensitzen. Und dann schreibt Woolf, dass Frauen ja auch keine eigenen Zimmer hatten. Dass Austen ihre Romane im Kreise der Familie im Salon geschrieben hat, immer wieder unterbrochen vom Gossip der Gäste, von „Frauenaufgaben“ wie Strümpfe stopfen, von den häuslichen Pflichten, die Frauen eben zu erledigen hatten. Und wenn sie dann einen Roman veröffentlichte und kein männliches Pseudonym verwandte, dann wurden ihre Romane nicht ernst genommen:
Das ist ein wichtiges Buch, unterstellt der Kritiker, denn es handelt vom Krieg. Das ist ein unbedeutendes Buch, denn es handelt von den Gefühlen von Frauen in einem Salon. (S.76)
Außerdem tauchen Frauen einfach nicht auf. Sie sind nicht wichtig, es gibt 1928, so wie Woolf schreibt, kaum Biographien über Schriftstellerinnen oder Beschreibungen von Alltagsgeschichten von Frauen. Nichts aus dem 17. Jahrhundert, nichts aus dem 18. Jahrhundert. Frauen bleiben Spiegel und das ist eine ziemlich bittere Erkenntnis. Außerdem vertieft Woolfe ihre Thesen vom Anfang:
Die geistige Freiheit hängt von materiellen Dingen ab. Die Dichtkunst hängt von der geistigen Freiheit ab. Und Frauen sind immer arm gewesen, nicht erst seit zweihundert Jahren, sondern von Anbeginn der Zeit. Frauen hatten weniger geistige Freiheit als die Söhne athenischer Sklaven. Frauen hatten also nicht den Hauch einer Chance, Gedichte zu schreiben. Deshalb habe ich soviel Nachdruck auf das Geld und ein eigenes Zimmer gelegt. (S.108)
Am Schluss wendet sie sich an ihre Zuhörerinnen und ermutigt sie, egal um welches Sujet es sich handelt, Romane zu schreiben, Gedichte zu schreiben, einfach zu schreiben, und sich zu trauen zu schreiben.
Mir hat der Essay, der in sechs Kapitel unterteilt ist, sehr gefallen. Er ist sehr dicht geschrieben und nicht so einfach zu lesen, aber es gibt einen ganzen Haufen Anmerkungen, die mir sehr geholfen haben, besonders was die unterschiedlichen Schriftsteller_innen betraf, die ich nicht alle kannte. Interessant waren besonders ihre Anmerkungen zu Austen und auch zu Charlotte Bronte. Ihrer Meinung habe, werde in Jane Eyre zwar das große Genie der Schriftstellerin deutlich, könne sich aber nicht entfalten. Stattdessen seien die Übergänge rissig, und die Unterschiede zwischen Schriftstellerin und ihrer Figur seien nicht auszumachen. Wenn Jane Eyre rebelliere, sei das eigentlich Charlotte – und diesen Zorn würde man merken, während die Figuren von Jane Austen leicht dahingleiten und mit ironischer Distanz betrachtet werden können. Virginia Woolf hat einen interessanten Stil, der mir gefallen hat. Ich fand die Idee mit den unterschiedlichen Marys toll und habe Lust, mehr von ihr zu lesen – eventuell Mrs. Dalloway? Vielleicht überdenke ich auch noch einmal meine Meinung zu Jane Austen – und Sense and Sensibility liegt hier auch noch herum.
[*Ich stimme nicht allem zu, was Woolf so schreibt. Ich glaube nicht daran, dass Männer und Frauen so unterschiedliche Wesen haben, dass sie auch deswegen so ganz unterschiedlich schreiben. Äh – nein. Aber das, was ich interessant fand, habe ich versucht hier darzustellen.]
Virginia Woolf: Ein eigenes Zimmer/ Drei Guineen. Zwei Essays. In der Übersetzung von Heidi Zernig.
Um mich in meiner heftigen Girls – Obsession etwas abzulenken, habe ich Videos mit Jemima Kirk gesucht, denn die Frau ist einfach toll! Was ich gefunden habe, war dann dieses Video. Gefällt mir und ich glaube, ich sehe es jetzt schon zum dritten Mal. :)