Blasse Helden

Anton ist nach Russland gekommen, weil er dabei sein will, wie sich das Land Stück für Stück öffnet und an den Westen annähert. Er wittert das schnelle Geld. Russland ist das Land der unbegrenzten Möglichkeiten und anders als alles, was Anton bisher kannte. Anton will Teil des neuen Russlands werden, das vor einem tiefen gesellschaftlichen Wandel steht.

„Es war berauschend, inmitten eines archaischen Konflikts zu sein. Und es war anders, als er sich vorgestellt hatte, anders als die heitere Maueröffnung in Berlin vor vier Jahren, als die Guten siegten und sich anschließend alle lieb hatten. Je weiter östlich er kam, desto unbarmherziger wurden die Auseinandersetzungen. Als Romantiker hatte er sich nach solchen Erlebnissen gesehnt, und hier traf er nun plötzlich auf diese irrwitzige Leidenschaft, für eine Idee oder Sache zu sterben. […] Er würdigte den Unterhaltungswert des Wahns und wollte die Thematik einsaugen, mittendrin Zeuge sein, ohne sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden.“ (S.79)

In sieben Kapiteln, eine Sammlung von Momentaufnahmen, begleitet man Anton vom Anfang bis zum Ende der 90er-Jahre, dem Russland Jelzins und den Veränderungen, die seine Regierungszeit mit sich brachte.

Die einzelnen Kapitel sind lose durch die für Anton wichtigen Faktoren miteinander verbunden: Frauen, die er zum Zeitpunkt des Kapitels liebt, Kunst (Oper, russische Literatur, Ballett) und gelegentliche moralische Zweifel, die Anton nicht fremd sind. Aber diese Zweifel sind klein, denn Anton profitiert von der korrupten Seite des Systems.

Dabei ist Anton, wenn es um die Sparte Heldentum geht, auch eher von der blassen Sorte, der sich der Entscheidung für die eine oder andere Seite eben konsequent verweigert. Er gefällt sich gut in der Rolle des kulturinteressierten Lebemannes mit Sinn für Gerechtigkeit, wenn ihn angesichts einer minderjährigen Prostituierten ein Hauch von funktionierendem Gewissen überfällt.

Seine Möglichkeiten das System zu ändern sind allerdings begrenzt – oder er nimmt sie als sehr begrenzt wahr. Seine moralische Flexibilität gibt ihm auch genug Möglichkeiten, an keiner Stelle die Verantwortung für sein Handeln übernehmen zu müssen. Dafür ist das Luxusleben, das er in Russland genießen kann, viel zu verführerisch. Ein Leben, das er in Deutschland nie hätte führen können.Blasse Helden

Seine Erlebnisse sind zum Teil nicht ohne. Da wird eine saufende Landbevölkerung beschrieben, die sich durch massive Alkoholexzesse und Gewaltorgien betäubt, Zahlungen von Bestechungsgeld gehören zur Tagesordnung und entrückte Superreiche feiern, als wären sie selbst Teil der wiederauferstandenen Zarenfamilie geworden. Und Anton lässt sich mitten in diese Welt hineinfallen und versucht, das Beste für sich herauszuholen.

Die unglaublich irrwitzigen Geschichten über Tanzbären auf Hauspartys sind hier so selbstverständlich Teil der Geschichte, wie in jedem fantastischen John Irving – Roman. Und das will was heißen. Auch Isarin schreibt anekdotenhaft über die wilden Tiere, die zu jeder guten Party dazugehören , dass es eine wahre Freude ist. Da der Schriftsteller ein Pseudonym gewählt hat und selbst viele Jahre in Russland geschäftlich unterwegs war, komme ich schon an der einen oder anderen Stelle ins Grübeln. Wird hier jetzt jedes Russlandklischee überhöht oder hat Herr Isarin wirklich mit einem Bären auf einer Party gesessen?

Ob man wirklich, wie Viktor Jerofejew im Klappentext ankündigt, Russland heute verstehen könne, wenn man dieses Buch gelesen hat, sei dahingestellt. Arthur Isarin gelingt ein faszinierender Blick in eine gesellschaftliche Phase, die ein Land an einem Wendepunkt zeigt, ohne die kurrupten Seiten dieses Wandels unter den Tisch fallen zu lassen. Und das ist – bei allen wilden Geschichten – letztlich in erster Linie unterhaltsam.

Arthur Isarin – Blasse Helden. Knaus Verlag 2018.