2007 war ich das erste Mal in Rumänien. Ich habe meine Brieffreundin besucht, der ich seit 1997 Briefe geschrieben habe. Für sie war das schön, denn sie konnte Deutsch üben, für mich war das schön, denn ich hatte eine Brieffreundin und alle drei Wochen trudelte ein Brief aus einem Land ein, von dem icj keine richtige Vorstellung hatte. Meine Brieffreundin Cristina wohnte in Sibiu, 2007 passenderweise gerade Kulturhauptstadt Europas. Der Hinflug war abenteuerlich, das Flugzeug schien winzig, gerade einmal fünfzig Personen hatten Platz. Am Flughafen in Sibiu standen Sofas im Wartebereich für die Passagiere herum, die ich als Einrichtungsgegenstand nur von Personen im Alter meiner Oma kannte und nie an einem öffentlich Ort gesehen hatte und Cristinas Familie zeigte mir als erste große Attraktion ein neu eröffnetes Kaufhaus, das mir gar nicht so besonders erschien, weil es eben so aussah wie Zuhause. Wahrscheinlich war es deswegen so besonders.
Wenn wir abends unterwegs waren, gab es an jeder Ecke Tanztheater, Musik und Lesungen und ich habe wahrscheinlich die leckerste Zitronenlimonade der Welt getrunken. Sibiu war wunderschön! Cristina nahm mich mit und zeigte mir die Stadt und das Brukental- Museum. Als wir über den Marktplatz liefen, saß Peter Maffay an einem Tisch und genoss die Aussicht. Wir mussten drei Mal an ihm vorbei laufen und selbst beim vierten Mal traute ich mich nicht, ihn anzusprechen. Im Nachhinein betrachtet, glaube ich nicht, dass es den Erfinder von Tabaluga gestört hätte, wenn ich ihn nach einem Autogramm gefragt hätte. Andererseits, wer weiß. Ich verstehe kein Rumänisch, aber in Sibiu sprachen viele Rumän*innen Deutsch. Im Bus wurde ich einmal von einem Mann angesprochen, Cristina versuchte ihn abzuwimmeln, aber das war gar nicht so einfach. Er fragte mich, ob ich einen Job für ihn in Deutschland hätte. Ich war etwas überfordert von der Situation und Cristina war das alles sichtlich peinlich. Insgesamt hatte ich eine wunderschöne Zeit in Sibiu, Cristina hat später in Trier studiert und irgendwann haben wir den Kontakt verloren.
Ich habe bisher bewusst wenige rumänischen Autor*innen gelesen, Herta Müller und Iris Wolff sind die große Ausnahme. Jessica Kasper Kramer ist eine us-amerikanische Autor*in, die in ihrem Romandebüt Die Geschichtensammlerin eine Geschichte aus Rumänien erzählt und dafür auch mit drei rumänischen Freund*innen gesprochen hat. In der Debatte um Own Voices in der Literatur, ist das sicherlich nicht die einfachste Ausgangslage.
Own Voices bezog sich anfänglich auf die Debatte um Perspektiven von marginalisierten Gruppen, die sich besonders im Jugendbuchbereich formierte. Wenn eine Geschichte aus der Perspektive einer Schwarzen Person oder PoC geschrieben ist und Diskriminierungserfahrungen, die den Bereich race betreffen, thematisiert werden, ist die Forderung der Own Voices Bewegung, dass, sofern die Autor*innen nicht zu jener Gruppe gehören, zumindest Sensitivity Reader über die Geschichte lesen und auf bestimmte Stolperfallen in der Erzählung hinweisen. Denn, so die Annahme, gehöre man nicht zu der marginalisierten Gruppe, könne man bestimmte Erfahrungen eben nicht treffend abbilden oder trage eher noch zur Folklorebildung bei, während Autor*innen aus marginalisierten Gruppen, die eben genau diese Erfahrungen authentisch abbilden könnten, so wie in anderen Bereichen auch, strukturell diskriminiert werden und so bestimmte Erfahrungen eben nicht oder nur zum Teil in der literarischen Welt abgebildet werden. Ausgangspunkt der Debatte auf Twitter war die Frage nach sexueller Orientierung und Behinderung, mittlerweile erstreckt sich die Frage nach Own Voices auch auf weitere Bereiche, die Diversität markieren, die Erfahrungen von Minderheiten sollen so geschützt werden.
„We recognize all diverse experiences, including (but not limited to) LGBTQIA, Natives, people of color, gender diversity, people with disabilities, and ethnic, cultural, and religious minorities.“ WNDB
Jessica Kasper Kramer erzählt in ihrem Roman eine Geschichte aus der Perspektive eines rumänischen Kindes. Ileana sammelt Geschichten. Manche sind Märchen, andere handeln von der Vergangenheit und manche erzählen die Wahrheit. Ihr Vater ist Professor für Literatur, ihr Onkel ist Schriftsteller. Eines Tages muss sie die Stadt verlassen und zu ihren Großeltern, zurück in das Dorf, das ihre Mutter vor langer Zeit verlassen hat. Als ihr Onkel Andrei vom Geheimdienst entführt wird und von einem auf den anderen Tag verschwindet, ist die ganze Familie in Gefahr. Ileanas Geschichtensammlung wird von ihrem Vater vernichtet, doch die Securitate folgt ihr bis in die Wälder der Karpaten.
Jessica Kasper Kramer knüpft mit ihrem Debüt an die Tradition der Bücherdiebin oder der Erzählmuster aus Der Junge im gestreiften Pyjama an. Historische Begebenheiten werden aus der naiven Sicht eines Kindes erzählt, hier ist die Hauptfigur ein Mädchen, das gerade dabei ist, erwachsen zu werden. Die Kapitel wechseln dabei zwischen der Realität also der Erzählung um Ileana, ihr Leben auf dem Dorf, den Versuchen der Großeltern, ihr Wissen geheim zu halten und den Bedrohungen durch die Securitate auf der einen Seite und einer fiktiven Ebene, nämlich der Geschichten, die Ileana aufschreibt, auf der anderen Seite. Ilena schreibt an einem Märchen, das von der mutigen Prinzessin Ileana handelt, die gegen das Böse kämpft und vermutlich Bezug auf rumänische Märchen und Sagen nimmt. Leider wird dadurch auch immer wieder der Spannungsbogen unterbrochen.
Ich hatte tatsächlich ein Problem, diese naive Märchensicht mit der Realität, die Ileana erlebt, zusammen zu bringen. Gleichzeitig, und da schließt sich der Kreis zur Debatte um Own Voices-Literatur, war mir die rumänische Perspektive zu einseitig oder eben zu folkloristisch geschildert. In der Stadt ist alles grau, alle Menschen haben Angst vor der Securitate, außer einiger mutiger Student*innen von Ileanas Vater, am Ende hält das Dorf zusammen und die alte Frau, die alle unheimlich finden, ist vielleicht eine Hexe oder eben auch nicht. Als Kinder- oder Jugendbuch gelesen, finde ich den Umgang mit der Diktatur in diesem Text, die dem mutigen Mädchen durch die Sammlung ihrer Geschichten dann doch gelingt, zielgruppenbedingt schwarz-weiß und viel zu vereinfacht. Die Männer der Securitate sind klar zu erkennen und kommen als Fremde ins Dorf. Das vereinfacht die Erzählung, natürlich. Am Ende rettet die Geschichtensammlerin durch eine Geschichte ihren Vater vor den Soldaten, im ganzen Land ist Aufbruchsstimmung. Ende gut, fast alles gut. Die Märchenerzählung breitet sich auch auf Ileanas Leben aus, die Kraft der Geschichten hilft allen.
Als die Securitate am 30. Dezember 1989 aufgelöst wurde, hatte sie schätzungsweise 40.000 offizielle und 400.000 inoffizielle Mitarbeiter. Der rumänische Geheimdienst galt als besonders brutal. Er brachte in den 1950er und 1960er-Jahren bis zu 100.000 Regimekritiker hinter Gitter, viele überlebten den Gefängnisaufenthalt nicht.
1999 verabschiedete Rumänien als eines der letzten osteuropäischen Länder ein Gesetz zur Aufarbeitung seiner Geheimdienstakten. Weitere sechs Jahre vergingen, bis die Aufarbeitungsbehörde CNSAS schließlich die Akten erhielt. Sie waren bis Ende 2005 vom Inlandsgeheimdienst (SRI) verwaltet worden – dem Nachfolger der Securitate. Der hatte damit ausreichend Zeit, die Akten zu zerstören oder komplett neu zu ordnen. Bis heute sind etliche Dokumente noch als Staatsgeheimnis deklariert und damit weiter unter Verschluss. Bis 2015 war nur ein Bruchteil der ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter enttarnt worden, viele arbeiteten auch nach dem Systemwechsel in hohen Posten der Regierung oder konnten sich und ihren Kindern durch guten Gehälter einen hohen Lebensstandard leisten und ihren Elitenstatus Übergangslösung beibehalten. (Quelle: MDR )
Ich war nicht hundertprozentig zufrieden mit dieser Geschichte, ohne genau sagen zu können, warum mich die Geschichte nicht ganz erreichen konnte. Deswegen frage ich mich, ob es wirklich an der Perspektive im Hinblick auf Own Voices geht oder vielleicht doch der naive Blick der Protagonist*in für mich nicht ganz aufgegangen ist.
Habt ihr den Roman schon gelesen?
Ich habe den Roman als Rezensionsexemplar angefordert. Vielen Dank!
Jessica Kasper Kramer – Die Geschichtensammlerin. Aus dem Englischen von Marcus Ingendaay (The Story That Cannot Be Told 2019). Wunderraum 2020.
Weitere Rezensionen:
Kidslitreview (englisch)