[Rezension] M.J.Hyland – Die Liste der Lügen

Irland in den 70er Jahren: John Egan ist anders als die anderen Kinder in seinem Alter. Er ist größer als die meisten Zwöfjährigen und wird aufgrund seiner frühreifen Entwicklung nicht nur in der Schule mit Schwierigkeiten konfrontiert, sondern auch zuhause. Auch hier liegt einiges im Argen. Seine Mutter kann mit seiner Entwicklung nicht umgehen und ist ihm entweder zu nah oder verweigert ihm ihre Nähe, was John emotional verstört. Seine Eltern haben große finanzielle Schwierigkeiten. Sie müssen zur Großmutte ziehen, die wiederum den Eindruck gewinnt, dass die Eltern von John herumschmarotzern, die Ehe der Eltern kriselt. John beobachtet seine Umgebung genau und John macht das, was er (vermeintlich) am besten kann: er deckt nach und nach die Lügen der Erwachsenen auf und hält sie in einer Liste tagebuchartig fest. Denn John glaubt ein menschlicher Lügendetektor zu sein: sobald ihn ein Erwachsener oder ein Schulkamerad anlügt, machen sich bei ihm körperliche Symptome bemerkbar. Schwindelanfälle, plötzliche Schwäche, Übelkeit – und schon hat John eine weitere Lüge enttarnt. Seine Hoffnung (oder sein Wahn?) besteht darin, mit dieser Fähigkeit ins Guinessbuch der Rekorde aufgenommen zu werden. Doch als menschlicher Lügendetektor hat man es in der Welt der Erwachsenen, in der Lügen aus Höflichkeit und Selbstschutz dazugehören, nicht leicht und die Katastrophe nimmt ihren Lauf … Hyland-Die-Liste-der-Lügen.gif

Eigentlich dachte ich, dass bei diesen Zutaten (Irland, Coming-of-Age-Geschichte, die unglaublich verrückte Ausgangssituation des „menschlichen Lügendetektors“, ein bisschen Sozialkritik und Familiendrama) eigentlich nichts schief gehen könnte. Hinzu kam das hohe Lob von Coetzee (Schande, Das Leben der Tiere, Elisabeth Costello) auf der Rückseite: „Literatur von allerhöchsten Gnaden“. Und irgendetwas ging für mich dann doch schief. Der verrückte Aufhänger reicht eben nicht aus, um einen konstant witzigen oder dramatischen Roman zu verfassen. Der Anfang ist relativ schleppend und ich hatte Schwierigkeiten in die Handlung einzusteigen und mit John als Figur warm zu werden, deshalb habe ich die ersten knapp hundertfünfzig Seiten einfach quergelesen. Zwischendurch war ich mir nicht mehr sicher, wie ich diesen Roman zu lesen hatte. Sollte ich ergriffen und dramatisch berührt sein, von dem Schicksal des Jungen, der in der Welt der Erwachsenen nicht zurecht kommt und sich in seine eigene Welt der Rekorde flüchtet? Gleichzeitig gab es viele witzige Stellen, die mir allerdings bei meiner Verwirrung nicht weiterhalfen. Ist John verrückt oder nicht? Ist er nun ein „Lügendetektor“ oder ist er ein zurückgewiesenes psychisch auffälliges Kind aus einer instabilen Familie? Und wenn das so ist (es kann ja auch beides zutreffen, so what?), wieso komme ich nicht an diese Figur John heran? Ist das Ende ein Zeichen dafür, dass er eine (post)pubertäre Phase der frühen Adoleszenz überwunden hat, nach dem Motto: Ende gut, alles gut – wenn die Erwachsenen lügen, haben sie eben ihre Gründe? Ziemlich banale Wendung, dafür dass vorher ein „menschlicher Lügendetektor“ Seite für Seite verkauft wurde und die Welt der Erwachsenen von so vielen Konflikten geprägt ist. Vielleicht liegt die Zähigkeit des Textes auch an der Übersetzung, aber im Rückblick kann ich mir das Lob von Coetzee nicht erklären. Ein Buch, dass ich nicht empfehlen würde – insgesamt blieben bei mir einfach zu viele Fragezeichen.

M.J. Hyland: Die Liste der Lügen. Übersetzt von Ingo Herzke. Pieper 2007.

ISBN: 978-3-492-05115-6 / 978-3-492-25300-0