//TW: Suizid//
Abgesehen von einem kurzen Prosatext über 23 Sorten verschiedene Sorten Alkohol sind die Texte Stig Sæterbakken bisher nicht aus dem Norwegischen ins Deutsche übersetzt worden. Der Roman Durch die Nacht ist der letzte Text, den er vor seinem Freitod 2012 veröffentlicht hat. Es geht um einen Mann, dessen Leben komplett aus den Fugen gerät. Sein Sohn hat sich das Leben genommen und die Trauer um den Tod seines Kindes lässt den Ich-Erzähler Karl Meyer nicht mehr zu Ruhe kommen. Ausgelöst durch die Trauer um seinen Sohn beginnt eine fieberhafte Reise durch die Nacht, deren Ende eine große Überraschung für die Leser*innen bereit hält.

Trauer tritt in so vielen Formen auf. Sie ist wie Licht, das ein- und ausgeschaltet wird. Sie ist da, sie ist nicht auszuhalten, dann verschwindet sie, weil sie unerträglich ist, weil man sie nicht permanent ertragen kann.“
Durch die Nacht
Ole-Jakob war der 18-jährige Sohn des Ich-Erzählers. Lange Zeit ist nicht klar, wie Ole-Jakob gestorben ist. Die Möglichkeit, dass er sich das Leben genommen hat, wird implizit angedeutet. Warum sonst sollte Ole-Jakob das Auto seines Vaters frontal gegen einen Lastwagen fahren? Doch zunächst wissen die Leser*innen nicht genau, was passiert. Sie begleiten Karl Meyer dabei, wie er anfängt, kurze episodenhafte Szenen aus dem Leben seines Sohnes aufzurollen, während er selbst die Familie verlässt und sich auf einen eigenen Weg nach Antworten macht. Der Tod des Sohnes hat die Familie auseinandergerissen. Karls Frau Eva ist nicht mehr ansprechbar und zerschlägt in ihrer Hilflosigkeit den Fernseher mit einer Axt, die gemeinsame Tochter kommt auch für Karl nur noch am Rande vor. Doch war die Familie nicht schon lange vor Ole-Jakobs‘ Tod kaputt? Karl hat seine Frau mit Mona betrogen. Mona ist 20 Jahre jünger als Eva und für Mona verlässt Karl seine Familie. War das der Grund für Ole-Jakobs Freitod? Nach dem Tod von Ole-Jakob lässt Karl endgültig sein altes Leben hinter sich. Es beginnt eine alptraumhafte Reise durch Europa, er reist nach Deutschland und dann in die Slowakei. Sein Schwager Boris hat ihm ein geheimes Häuschen empfohlen, in dem jede*r Mensch zu sich selbst finden könne – sofern er sich denn traut. Boris ist Science-Fiction-Autor und für Karl kein richtig ernst zu nehmender Gesprächspartner. Trotzdem glaubt Karl ihm die Geschichte vom geheimnisvollen Haus, das man entweder erlöst verlässt oder das dafür sorgt, dass man wahnsinnig wird. Ein dubioser Unbekannter (teuflisch? mafiös? man weiß es nicht), erläutert Karl in einem Nachtclub das Haus und die Ereignisse dort auf folgende Weise:
„Was ich sagen will und was ich dir sagen muss, ist Folgendes: Noch hast du die Möglichkeit, dich zurückzuziehen. Aber von dem Moment an, in dem du die Schlüssel bekommst, gibt es keinen Weg zurück. Und dann kann dir auch keiner mehr helfen. Du bist allein mit dem, was passiert. Es hängt kein Zettel mit einer Notrufnummer am Eingang, um es so auszudrücken.“
Durch die Nacht
War Meyers Reise zum Haus schon eine Odyssee, beginnt jetzt eine surreale alptraumhafte Phase, die nicht mehr viel mit der Realität zu tun zu haben scheint. Andererseits haben sich bereits von Anfang an Zeichen eingeschlichen, die an der psychischen Stabilität von Meyer Zweifel wach werden lassen. Hat er nicht von Anfang an Zeitsprünge in seinem Erleben festgestellt? Verweisen nicht allein sein Science-Fiction-Freund Boris und das Haus selbst auf Haunted-House-Geschichten, die wir als Leser*innen alle kennen? Wer erinnert sich nicht an den Untergang des Hauses Usher von Egar Allen Poe, in der es um eine unglückliche Familie geht oder die ikonische Szene aus Shining, in der Jack Nicholson, ein wahnsinnig werdender Familienvater -eben auch mit einer Axt – einen Türrahmen zerschlägt? Wie zuverlässig ist der Allerweltsmensch Karl Meyer in der unglücklichen Situation, in der er sich befindet?
„Wir wissen nichts voneinander, dachte ich. Wir kennen einander nicht. Menschen, die am Abgrund stehen, kennen sich nicht.“
Durch die Nacht
Karl Meyers Reise in den Horror der eigenen Existenz ist faszinierend und gleichermaßen verstörend zu lesen. Ich hatte das Glück, den Roman mit einem Tandempartner aus Holland lesen zu dürfen, der zur Zeit in Norwegen lebt. Und das war eine unglaubliche Bereicherung, denn der Text hat durchaus seine Momente, die man gerne sofort mit jemand anderem bespricht. Durch die Nacht ist die Anatomie eines Trauerprozesses und dabei auch ein Roman, der viel mehr Fragen aufwirft, als sie abschließend zu klären. Sæterbakken schont seine Leser*innen nicht, wahrscheinlich hat der Roman deshalb auch für eines meiner intensivsten Leseerlebnisse seit langem gesorgt.
Ich bedanke mich sehr herzlich für das Rezensionsexemplar und die wunderbare Tandemlesezeit mit meinem Tandempartner! Danke!
Stig Sæterbakken – Durch die Nacht. Aus dem Norwegischen von Karl-Ludwig Wetzig. Dumont 2019.