Das Debüt der Österreicherin Laura Lichtblau zeigt eine unheimliche Tendenz: Bürgerwehren machen Stimmung. Ein Sturm auf das Reichstagsgebäude? In Lichtblaus Roman auf jedem Fall im Rahmen des Möglichen. Die Radikalisierung der vermeintlich normalen Menschen, die zur Katastrophe führt, wirkt deshalb noch überzeugender. Immerhin ist am Ende nicht alles verloren, so viel kann verraten werden.

Dystopien haben und hatten schon immer eine wichtige Funktion: Sie sind gewissermaßen Stimmungsmesser für gesellschaftliche Entwicklungen, Tendenzen und Diskussionen, sie kritisieren bestehende gesellschaftliche Verhältnisse und wollen die Menschen zum verantwortungsvollen Handeln aktivieren. Laut BBC hat das Interesse an dystopischer Literatur seit den Präsidentschaftswahlen in den USA 2016 einen wahren Aufschwung erlebt: So befinden sich dystopische Klassiker wie George Orwells 1984, Sinclair Lewis’ It Can’t Happen Here, Ray Bradburys Fahrenheit 451 und Brave New World von Aldous Huxley sowie The Handmaid’s Tale von Margaret Atwood unter den meist verkauften Büchern im Januar 2017. Die Weltentwürfe der Dystopie sind also dann erfolgreich und erreichen die Leser*innen, wenn sich die gezeigte Zukunftsvision nicht in einer vollkommen unwahrscheinlichen Realität abspielt, sondern bereits in der außerliterarischen Welt deutlich wird.
Der Roman Schwarzpulver kreist um drei verschiedene Figuren, die die Ereignisse der Rauhnächte, also der Zeit zwischen Weihnachten und Anfang Januar, in kurzen Kapiteln erzählen. Die Rauhnächte gelten seit jeher als Zeit der Hexen, als Phase der Orakelsprüche und sprechenden Tiere, Geister sollen vertrieben werden. Für die Figuren Elisa, genannt Burschi, Charlotte und Charlie ergeben sich in dieser Zeit ganz besondere Herausforderungen.
Burschi, die einen gut laufenden Internethandel mit geklauten Gegenständen betreibt, lernt eine besondere Frau kennen und verbringt einen erotischen Nachmittag mit Johanna. Johanna verschwindet immer wieder, denn sie ist Partisanin und kämpft im Untergrund gegen den Staat. Charlotte Venus, systemtreu und unkritisch, hat sich zur Scharfschützin bei der Bürgerwehr ausbilden lassen und schützt die Grenzen und öffentlichen Plätze, ihr 19-jähriger Sohn Charlie sucht in einem Praktikum bei einem alternativen Musiklabel für Untergrundrap ein Schlupfloch im totalitären System. Burschi und Charlie haben schon lange erkannt, dass der Staat das Problem ist.
„Ich sage dir […], dass die Partei keine Frauen mag, die Frauen lieben. Sie mögen keine Anglizismen, kein fremdländisches Essen, keine Menschen, die glücklich sind, sie mögen keinen Hip-Hop, keine Konzerte auf der Straße, keine Menschen, die aus anderen Ländern stammen, keine Familien ohne Kinder, keine Männer mit Lipgloss, keine Frauen mit Glatze, sie mögen keine Frauen, die erfolgreicher als Männer sind…“
Charlotte distanziert sich erst langsam von den Kolleg*innen, am Anfang agiert sie „zielführend“ und schießt ohne große Gewissensbisse. Sie erinnert sich in ausführlichen Rückblicken an die Entwicklung der Bürgerwehr, an den Zusammenhalt, das gemeinsame Racletteessen, die gemeinsame gesunde Wut gegenüber Kiffern und Schmarotzern, die doch nur die gutbürgerliche Ordnung stören. Wie belastend der Job als Scharfschützin ist, zeigt sich im wiederkehrenden Alkoholkonsum der Protagonistin und ihren Zweifeln, die sich langsam einstellen.
Besonders eindrücklich zeigen sich die dystopischen Elemente gerade dann, wenn die Leser*innen den Eindruck gewinnen, dass einige geschilderten Figuren wie Abziehbilder der Hygienedemos wirken. Hundezüchter, die sich über Rassegesetze auslassen, Parteifunktionäre, die Reden darüber schwingen, dass man Single-Frauen doch über Datingportale verpartnern könne, damit es mehr Schwangerschaften gibt und die allgengewärtige Angst davor, dass in Berlin bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten. Weicht jemand vom patriarchalen Familiensystem ab, wird die Kommission für Volksgesundheit aktiv, die alle „Abweichler“ umerziehen will. Auch Burschi wird aus ihrer WG fliegen, denn ihre Mitbewohner*innen haben Angst, denn alles was zu feministisch oder queer daherkommt, soll aus dem Stadtbild gestrichen werden. In der Konstruktion des autoritären Staatsapparates ist alles dabei, was in den letzten Jahren (und wahrscheinlich schon immer) an völkischer, rassistischer, homophober und frauenfeindlicher Propaganda so am Start ist. Lichtblau fängt diese aktuellen Momente ein und verwebt sie in ein Netz in ihrer Dystopie, die in einer unglaublich schönen, zarten und auch witzigen Sprache daherkommt. Als Charlotte, die irgendwann die Situation nicht mehr aushält „außer Rand und Band gerät“, bleibt ihr nur noch die Psychiatrie als letzter Zufluchtsort.
Der „langsam entstehende Aufruhr“, der sich im letzten Satz des Romans andeutet, kann eine Hoffnung sein. Vielleicht kann Lichtblaus deutschsprachige Dystopie Schwarzpulver einmal in einem Atemzug mit Juli Zehs Dystopie Corpus Delicti genannt werden, beide Romane laden auf intelligente Weise zum Nachdenken und Diskutieren ein. Zugunsten der Konstruktion des Systems und der literarischen Welt wirken einige Figuren eher klischeehaft. Das ist vielleicht aber auch ein gängiges Problem des Genres, in dem häufig jemand aufwachen muss, der zunächst das autoritäre System unterstützt. Das Schwarzpulver verweist übrigens auf das explosive Material in einer Schusswaffe und damit direkt auf das angedeutete Ende des Romans.
Weitere Rezensionen findet ihr hier:
Laura Lichtblau – Schwarzpulver. C.H. Beck 2020.
Ich habe den Roman als Rezensionsexemplar erhalten, vielen Dank!