„Ich auster in Gedanken“ – Eine allgemeine Theorie des Vergessens

IMG_20170724_195620José Eduardo Agualusa schreibt eine Geschichte über das Vergessen und eine Geschichte über Angst. Ludovica lebt bei ihrer Schwester Odete in Luanda, der Hauptstadt von Angola. Es sind die 1970er Jahre. In Angola gibt es seit geraumer Zeit Spannungen, eine Revolution liegt in der Luft. Odete verlässt mit ihrem Mann Orlando das Land. Ludo will ihre Heimat nicht verlassen. Am Vorabend der Revolution, in deren Folge Angola die Unabhängigkeit von Portugal erklären wird und ein langwieriger Bürgerkrieg entfacht wird, erschießt Ludo aus Notwehr einen Einbrecher. Sie vergräbt die Leiche in den Blumenbeeten auf dem Balkon und mauert sich in ihrer Wohnung ein. In den nächsten 30 Jahren wird sie ihre Wohnung nicht mehr verlassen.

 

„Ich habe Angst vor dem, was hinter den Fenstern ist, vor der Luft, die in Schüben hineinweht, und vor den Geräuschen, die sie mit sich bringt.“ (S.32)

Ludo kommt mit ihrem Leben in ihrem selbstgewählten Exil gut zurecht. Sie pflanzt Lebensmittel auf ihrem Balkon an und jagt Tauben. Als der Hunger zu groß wird, versucht sie „Che Guevara“ zu töten – einen Affen, der sie zwischendurch auf ihrem Balkon besucht. Irgendwann wird ihr der Strom abgedreht und so bekommt sie gar nicht mehr mit, was in Angola und der Welt passiert. Stattdessen beginnt sie ihr Leben und ihre Gedanken an die Wände ihrer Wohnung zu schreiben.

„Mir wird bewusst, dass ich meine Wohnung zu einem riesigen Buch gemacht habe. Wenn die Bibliothek verbrannt sein wird, wenn ich gestorben sein werde, wird nur noch meine Stimme da sein.“ (S.219)

Der Erzählstil von Agualusa ist schnörkellos und direkt. Die Überschriften der Erzählungen hingegen wirken poetisch: „Wiegenlied für einen kleinen Tod“, „Über die Abschürfungen der Vernunft“, „Die Substanz der Angst“. In Briefen, Tagebucheinträgen, und Haikus wird die Situation von Ludo beschrieben – einer Frau, die in einer selbstgewählten Isolation lebt, aus der sie sich viele Jahre lang nicht befreien will. Sie beschreibt ihr Leben wie das Dasein einer Auster, vielleicht praktiziert sie auch die Tätigkeit des „austerns“ – in ihrem Haiku heben sich diese Unterschiede zwischen Dasein und Tätigkeit auf. Ihr Leben findet im Verborgenen statt. Sie ist nicht nur ins Innere geflüchtet – ihr Rückzugsort ist auch ein Schutzraum vor der Welt da draußen. Und droht auch zum selbstgewählten Gefängnis zu werden.  

 

„ich auster in gedanken

verschlossen mit perlen

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am abgrund scherben“ (S. 70)

Neben Ludos Schicksal werden auch die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Angola thematisiert, die Folgen von Kolonialismus und Bürgerkrieg, ohne dass die Exkurse aufgesetzt oder angestrengt wirken. Die Folgen der Revolution werden auch Ludo nur in kleinen Schnipseln zugänglich. Hier hört sie einen Radiobeitrag, da wird sie Zeuge einer Schießerei, die sich auf der Straße abspielt. Auch internationale Ereignisse erreichen Ludo durch den Filter des Radios: Mao Tse-Tung stirbt (1976), im Flughafen von Entebbe beenden israelische Streitkräfte eine Flugzeugentführung (1977) und es wird klar, in welcher Situation sich Angola eigentlich befindet. Denn auch andere Figuren des Romans hören im Radio über „das allmähliche Vorrücken der Regierungstruppen, unterstützt durch Kubaner, gegen die notdürftige, brüchige Allianz aus UNITA, FNLA, der südafrikanischen Armee und portugiesischen, englischen und nordamerikanischen Söldnern“ (S.49).  

Außerdem werden verschiedene gesellschaftliche Diskurse, die auch über die Geschichte Angolas hinausreichen, angerissen. Es geht um den Glauben an Hexerei, Diskussionen über „Negritude“ und was diese Diskussionen in den 1970er Jahren bedeuteten. Gleichzeitig werden Popsongs brasilianischer Künstler wie Chico Buarque oder Elza Soares als Referenzen in die angolanischen Diskurse eingebunden.

Besonders interessant war die Szene in Ludos Bibliothek, die sie nach und nach dem Feuer opfert, denn ihre Heizung wird abgestellt. Das Parkett hat sie schon herausgerissen und verbrannt, irgendwann muss auch die Literatur dran glauben. Sie verbrennt Drei traurige Tiger, einen Roman des Castrokritikers und Regimegegners Guillermo Cabrera Infante, aber auch Romane von Jorge Amado, einem der bedeutendsten lateinamerikanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, wirft sie ins Feuer. Kein Wunder, dass auch Ulysses verfeuert wird.

Neben Ludo spielen auch viele andere Figuren eine Rolle.  Es geht um ein Päckchen Diamanten, die Brieftaube Amor (die Liebe ist ein zentraler Bestandteil der Geschichte), einen Söldner, der davon läuft, einige Schafhirten, einen Straßenjungen, einen ehemaligen linken Revolutionär, der sich mit vielen kleinen Geschäften über Wasser hält und einen ehemaligen Agenten, der Privatdetektiv geworden ist. Alle Figuren sind auf die ein oder andere Weise mit Ludos austerartigem Leben verbunden.

Unglaublich gekonnt und wendungsreich verbindet Agualusa die verschiedenen Erzählstränge. Erscheinen einige Episoden am Anfang noch relativ vage, werden sie einige Seiten später aus einer anderen Perspektive erneut erzählt und mit vielen bisher verborgenen Details angereichert. Zum Beispiel hört Ludo eine Rauferei auf der Straße und notiert dies in ihrem Tagebuch. Viele Seiten später werden die Verstrickungen der andere Protagonisten in die Ereignisse des 27. Mai 1977 deutlich. An diesem Tag versuchte die MPLA (Movimento Popular de Libertação de Angola) sich gegen die kommunistische Führung zu stellen, die Ereignisse endeten mit einem Massaker.

Mit dem ausführlichen historischen Hintergrund, der sich hinter den kleinen Schnipseln verbirgt, ist aber längst nicht alles gesagt. Ludovicas Hund, der sie in ihre Isolation begleitet, heißt Fantasma. Ludo gibt sich auch in ihrer Isolation einem Trugbild des echten Lebens hin (dass sie, soviel sei verraten, übrigens nicht bis zum Ende aufrecht halten kann), und dem Roman ist ebenfalls ein spielerischer Authentizitätsbeweis vorangestellt, in dem der Erzähler behauptet, Ludovica Fernandes sei eine reale Person. Es ist ziemlich verführerisch, den Erzähler hier schon mit dem Autor gleichzusetzen. Auf den folgenden Seiten würde er sich allein der Schriften von Ludovica bedienen, heißt es in den Vorbemerkungen: „Doch ist das, was Sie lesen werde, Fiktion. Reine Fiktion.“ (S.7) Und diese Fiktion hat mich sehr begeistert.

Weitere Besprechungen findet ihr hier:

Feiner reiner Buchstoff

AstroLibrium

Literaturreich

Ein Interview mit dem Autor findet ihr hier

José Eduardo Agualusa: Eine allgemeine Theorie des Vergessens. Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler.  C.H. Beck 2017.

 

Ich habe den Roman als Rezensionsexemplar erhalten. Vielen Dank!