Uns gehört die Nacht

Eine junge Frau sitzt in einem Hotelzimmer. In der Hand hält sie ein Gewehr und zielt damit auf ihren Freund. Aber wie konnte es soweit kommen? Diese aufwühlende Szene steht am Anfang einer ganz besonderen Liebesgeschichte.

New Haven 1986. Elise, eine junge Frau aus eher schwierigen Verhältnissen, zieht in ein heruntergekommenes Haus. Im Haus gegenüber ist eine Studenten-WG. Jamey,  einer der Nachbarn, Yale-Student und Sprössling einer Familie von Investmentbankern, und Elise beginnen eine leidenschaftliche Affäre, die bald zu mehr wird, als beide zu Anfang gedacht hätten. Jamey verliebt sich Hals über Kopf in Elise.

„Jamey bewunderte die Sternschnuppen ihres Geists, die pudrige Galaxie ihrer Gedanken. Elises Intelligenz ist anders sortiert als seine. Sie liest nie mehr als ein paar Seiten eines Buchs, aber sie liebt es, darüber zu reden, was sie gelesen hat. Sie denkt in wilden Gärten, während er seine Gedanken am Spalier zieht, an einem Gerüst aus Einführung, These, Argumentation und Schluss.“(S.205)

Elise und Jamey könnten unterschiedlicher nicht sein. Elise Perez, Halb-Puertoricanerin, kennt ihren Vater nicht und wuchs mit ihrer Mutter und ihren jüngeren Geschwistern zwischen Drogenabhängigen und Kleinkriminellen auf. Der Partner ihrer Mutter war gewalttätig, mit ein Grund, warum Elise von Zuhause abgehauen ist. Sie hat keinen Schulabschluss und jobbt ohne große berufliche Ambitionen zu hegen, in einem Geschäft für Kleintiere. Aber ihr gesellschaftlicher Status, ihre fehlende Bildung und ihre gesamte Lebensart, die sie so von Jamey unterscheidet, sind ihm egal. Er lädt sie nach New York ein, und was als Zeitvertreib beginnt, wird zu einer Liebesbeziehung, die er einerseits Uns gehört die Nachtgenießt, aber andererseits gegenüber seinen Freunden und seiner Familie verleugnet.

Es geht also nicht nur um Liebe und Sex und die Erfüllung, die beide gefunden zu haben scheinen. Es geht auch um Macht, Einfluss und Klassenzugehörigkeit. Denn dieses Versteckspiel kann nicht lange gut gehen und bald  wird Jamey von seiner Familie gezwungen, eine Entscheidung treffen, die sein zukünftiges Leben maßgeblich beeinflussen wird. Entweder, er entscheidet sich für die Annehmlichkeiten, die seine privilegierte Herkunft bietet, für ererbtes Geld, für gute Kontakte, für eine standesgemäße Partnerin und beendet seine Beziehung zu Elise. Oder er entscheidet sich für seine Freundin und damit für den gesellschaftlichen Abstieg. Kann Jamey sich von seiner Familie lösen und mit Elise einen Neuanfang wagen?

„Vielleicht sind Jamey und Elise ihr eigenes Volk, vielleicht gehören sie zu niemandem sonst, zu nichts Größerem als zueinander. Können wir so leben? Darüber denkt Elise nach, als sie sich müde die schwarzen Turnschuhe aufschnürt an deren Sohlen Gold klebt.“ (S.329)

Jamey weiß nie, woran er bei Elise ist und ist häufig verunsichert, durch ihre impulsive Art. Außerdem weiß er, dass niemand aus seiner Familie und erst recht nicht seine Freunde, Verständnis dafür aufbringen, dass er mit Elise zusammen ist. Und manchmal kann er nicht genau sagen, ob sie ihn ausnutzt oder nicht. Elise ist eine sehr starke Persönlichkeit, aber sie war noch nie mit einem Menschen wie Jamey zusammen. Sie weiß nicht, wie sie sich seinen Freunden gegenüber verhalten soll und sie hat große Angst davor, dass Jamey sie irgendwann auf die Straße setzt, weil er genug von ihr hat. Denn sie hat das Gefühl, dass jemand wie er, jede haben könnte. Die alte Geschichte, dass hier zwei Menschen aus sehr verschiedenen Welten aufeinander treffen – man könnte sich an Pretty Woman erinnert fühlen – wird von Jardine Libaire sehr glaubwürdig und mit großem Feingefühl erzählt.

Uns gehört die Nacht ist der sechste Roman der texanischen Autorin und überzeugt durch eine grandios beobachteten Beschreibung der Gefühlswelt der beiden Hauptfiguren, ihren Zweifeln, ihren Ängsten und gleichzeitig ihrer großen Liebe zueinander. Trotzdem kann man als Leser_in nicht die Anfangsszene vergessen und wartet deshalb auf den Bruch, auf das Chaos, auf den Streit, der diese Katastrophe ausgelöst hat.  Jardine Libaire wartet mit so vielen unerwarteten Wendungen auf, dass ich den Roman kaum aus der Hand legen konnte. Ein absolut fesselnder und intensiver Roman, den ich in wenigen Tagen gelesen habe. Ganz große Leseempfehlung.

 

Jardine Libaire – Uns gehört die Nacht. Aus dem Amerikanischen von Sophie Zeitz. Diogenes 2018, 464 Seiten

 

 

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