Was dir bleibt

CN: Suizid

Eine Frau besteigt einen Zug und kommt nicht mehr zurück. Im kanadischen Originaltitel À Train perdu schwingt mehr vom Inhalt mit, auch wenn sich viele Fragen stellen. „Im Zug verloren“ klingt merkwürdig genug, hier geht es um Gladys, die mit Mitte 70 einen Zug besteigt. Weder ihr Umfeld noch die Leser*innen verstehen, warum sie einfach „verloren geht“.

Gladys lebt in einem kleinen Dorf in den Wäldern an der Grenze zu Québec. Lisana ist ihre Tochter, sie ist psychisch krank und ist auf die Unterstützung ihrer Mutter angewiesen. Seit einem Suizidversuch in jungen Jahren, hat sie nicht mehr alleine gelebt. Lisanas Vater arbeitete im Bergbau und verstarb früh, sodass Gladys sich alleine um ihre Tochter kümmern musste.

Scheinbar ohne äußere Veranlassung setzt sich Gladys eines Tages in den Zug und verschwindet. Sie nimmt den Northlander, einen der seltenen Züge, die durch die Wälder fahren. Ihre Tochter Lisana wird von den Nachbar*innen gefunden und kann nicht erklären, was mit ihrer Mutter los ist und wohin sie unterwegs ist. Gladys‘ Freund*innen und Bekannten fangen an, sich große Sorgen zu machen.

Interessant, aber auch etwas distanziert, wirkt die Erzählerstimme in dieser Geschichte. Erst nach und nach klärt sich, wer dieser Erzähler eigentlich ist und in welcher Beziehung er zu den Protagonist*innen steht. Er sucht viele Jahre später mögliche Zeug*innen auf, spricht mit Freund*innen von Gladys, den Zugbegleiter*innen und den Nachbar*innen. So bringt diese Erzählweise mit sich, dass Gladys nie zu Wort kommt. Relativ früh wird den Leser*innen klar, dass Gladys schwer krank ist.

Erzählerisch wird also ein ziemlich dickes Brett gebohrt, es fehlt die Unmittelbarkeit, vielleicht auch das Warum, zumindest eine gewisse Zeit. Ich hätte mir eine andere Auflösung der Zusammenhänge zwischen Gladys und dem Erzähler gewünscht und war ein wenig enttäuscht.

Trotzdem gelingt es Saucier eine Atmosphäre zu schaffen, die begeistert. Ein wenig erinnert der Stil der Erzählung auch an eine lange Zugfahrt, bei der man allerdings nicht genau weiß, wo die Endstation liegen soll. Dass die Endstation dann eben keinen offenen Kiosk hat, fasst mein Problem mit der Romanhandlung metaphorisch ganz gut zusammen. Trotzdem ist die Aussicht schön und die Fahrt war auch sehr gemütlich.

Saucier hat mit Was dir bleibt ein ziemlich vortreffliches Herbstbuch geschrieben. Vielleicht liegt es an den kanadischen Wäldern, die zu dieser Stimmung beitragen, vielleicht an der Ruhe, die diese Erzählung ausstrahlt. Interessant und für mich vollkommen neu, waren die Passagen über die sogenannten „School Trains“. Das waren fahrende Klassenzimmer in umgebauten Eisenbahnwaggons, die in abgeschiedene Ecken im Norden Kanadas für einige Tage Halt machten, damit die Kinder der Umgebung wenigstens für ein paar Tage im Monat ein wenig Schulbildung erhalten konnten. Kinder von Waldarbeiter*innen, Siedler*innen und Natives wurden so in den Jahren 1926 bis 1967 in Kanada beschult. Gladys hat eine besondere Beziehung zu diesen Zügen, denn ihr Vater war Lehrer und sie ist in einem School Train auf die Welt gekommen.

Was dir bleibt ist kein Roman, der durch eine spannende Handlung besticht, vielmehr geht es um die Beziehungen der Protagonist*innen untereinander, die für mich eine interessante Dynamik entfalten konnten. Das sehr versöhnliche, wenn auch etwas traurige Ende der Geschichte, tröstete mich auch über einige Längen in der Erzählung hinweg und hat noch Tage später einen leisen Nachhall erzeugt, das hat mir sehr gefallen.

Kennt ihr andere Romane von Saucier? Welche Romane von ihr haben euch besonders gut gefallen?

Ich habe den Roman im Rahmen einer Lovelybooks-Leserunde gewonnen. Vielen Dank!