[ Rezension] Geschichtsstunde, die sich als Geschichte tarnt – Der Fall Collini

Als im März 2013 der Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“ lief, überschlugen sich die Kritiken. Viel Lob für diese ZDF-Produktion um die charmante, intelligente und absolut ideologiefreie Jugend, die doch eigentlich nur ein freies Leben wollte – wenn da nicht eben doch dieser Hitler mit seinem Krieg gewesen wäre. Schlecht sahen hingegen die anderen aus, die Partisanen, die Russen – alle nicht so hübsch wie die deutsche blonde Krankenschwester. Opfer waren hier eben vor allem die Deutschen. Das kam irgendwie gut an und passte irgendwie auch stimmig in die „Man wird doch wohl noch sagen dürfen“- Debatte um Ex-Bundesbanker Thilo Sarrazin. Doch bevor alle kollektiv die Fahnen schwenken – es gibt tatsächlich noch Aspekte der jüngeren Vergangenheit dieses Landes, die bisher noch nicht genug Beachtung fanden und sich nicht zum Feiern eignen.

Der Jurist und Schriftsteller Ferdinand von Schirach versucht in seinem Roman Der Fall Collini einen neuen Weg einzuschlagen. Die Story ist dabei schnell erzählt: Collini, der als Gastarbeiter nach Deutschland kam, ermordet bereits auf den ersten Seiten den 85-jährigen Hans Meier. Er gibt die Tat zu, aber das Motiv fehlt. Sein Pflichtverteidiger Caspar Leinen, ein junger aufstrebender Anwalt, steht vor einem Rätsel. Und persönlichen Verstrickungen: Hans Meier war der Großvater seines besten Freundes aus Kindertagen. So weit, so mysteriös. Doch durch den unverblümten Einsatz des jungen Anwalts, beginnt die Erzählung tatsächlich im letzten Drittel Dynamik zu entwickeln. Hans Meyer ist nämlich kein unbeschriebenes Blatt. Collini hatte ihn bereits 1969 angezeigt und die Anklage scheiterte.

Mit dieser überraschenden Wendung legt Schirach den Fokus auf eine historische Entwicklung, die in den meisten Geschichtsbüchern nur am Rande erwähnt wird. Durch eine Gesetzesänderung, der Aufnahme des Einführungsgesetzes zum Ordnungswidrigkeitengesetz, konnten ab 1968 die Taten der meisten NS-Verbrecher als Hilfstätigkeiten für die wirklichen Schurken gewertet werden, Mord wurde Beihilfe zum Totschlag, wie Schirach in einem Interview mit der Zeit beschreibt. Auf einmal muss es von blonden Krankenschwestern und tapferen Kriegshelden nur so gewimmelt haben. Erst die Presse machte auf diesen Skandal aufmerksam, der die Basis für Schirachs Erzählung darstellt.

Bei aller historischen Genauigkeit, die Figuren im Fall Collini bleiben leider Figuren auf Distanz und das liegt nicht zuletzt an Erzählstil und Ausdrucksweise. Da wird der Großvater des Freundes konsequent mit seinem vollen Namen Hans Meyer erwähnt, während andere Personen mit Attributen versehen werden, die für das weitere Geschehen überhaupt keine Rolle spielen („Gerne, Sie sind aber heute früh dran“, sagte die Bedienung, eine hübsche Türkin, über die es in Moabit viele Geschichten gab.“(103)), oder Banalitäten, die vermutlich die Tiefe der Erzählung andeuten sollen, wiederholt werden: „Ein Verteidiger verteidigt, nicht mehr und nicht weniger“ (129), „Du bist, wer du bist“ (193). Ohnehin bleibt vieles Klischee, dass sich nicht im Gerichtssaal abspielt: die Sommerferien in der Kindheit, das Leben im Internat, die lieblos eingestreute Liebesgeschichte und der konkurrierende Staatsanwalt. Geschichten werden nicht entwickelt, sie werden in den Text gestellt und vergessen. Und auch die Figur Collini gehört zu den Vergessenen. Denn eigentlich ist es gar nicht sein Fall, eigentlich ist es der Fall von Meier und der Fall von Leinen. Collini bleibt der große Unbekannte, der unauffällige Fremde, der Exot an dem sich alles aufhängt, dessen Charakterisierung allerdings oberflächlicher nicht sein könnte. Er ist nicht gerade ein Glöckner, aber eben auch kein Einstein, ein Riese mit Krakelschrift und Rachemotiv – das hinterlässt einen schalen Nachgeschmack. Dabei müssen es nicht immer die gefühlsduseligen Erzählepen des ZDFs sein, die sich mit der deutschen Vergangenheit beschäftigen. Dass Schirach sich einem lang vergessenen Justizskandal widmet, ist ihm nicht hoch genug anzurechnen. Ob er tatsächlich einen Roman hätte schreiben müssen bleibt fraglich – vielleicht hätte es auch einfach ein Aufsatz in einer Fachzeitschrift für Juristen getan.

Ferdinand von Schirach – Der Fall Collini. Piper (2013). 208 Seiten. ISBN: 978-3-492-30146-6