Europa endlos, Europa endlos … – Komm näher, hierher
(Brockdorff Klanglabor)
Der gefeierte Lyriker Jesper Humlin steht vor einem neuen Auftrag. Sein Agent verlangt von ihm, dass er einen Kriminalroman verfasst, da seine Gedichte einfach nicht genug Publikum interessieren. Jesper ist alles andere als begeistert. Hinzu kommt eine kriselnde Ehe, ein unerfüllter Kinderwunsch und schließlich seine schräge Mutter, die sich auf ihre alten Tage mit einer ganz besonderen Art der Dienstleistung über Wasser hält (Stichwort: reife/erfahrene Dame). Da begegnet Jesper auf einer seiner Lesungen der jungen Frau Tea-Bag, die sich illegal in Schweden aufhält. Jesper knüpft Kontakt und lernt auch ihre Freundinnen Tanya und Leyla kennen. Auf die Initiative eines alten Freundes hin, nehmen die Mädchen an einer Schreibwerkstatt mit Jesper teil und gewähren ihm kurze Einblicke in ihr Leben auf der Flucht. Dabei merkt Jesper, dass es noch weitaus größere Probleme gibt, als fallende Aktienkurse …
Mir hat der Roman gefallen. Die drei unterschiedlichen Perspektiven der Flüchtlinge werden genau beschrieben, da jede von ihnen Zeit in Jespers Schreibwerkstatt bekommt. Dadurch werden ihre Geschichten nachvollziehbar und man erfährt, weshalb sie nach Schweden gekommen sind. Mir gefiel besonders der Wandel des ironischen, distanzierten Jesper, der sich erst in der Konfrontation mit den Schicksalen der Frauen langsam verändert. Und trotzdem ist es dem Lyriker durch die alltäglichen Reibereien des Literaturbetriebes nicht möglich, eine Geschichte über Tea-Bag, Tanja und Leyla zu schreiben, die er für wichtig und lesenswert erachtet – weil sein Verlag anderer Ansicht ist. Die schwedischen Figuren sind häufig sehr ironisch und liefern sich unterhaltsame Wortgefechte, auch wenn nicht alle angerissenen Handlungsstränge zuende erzählt werden. Da ist es schwierig zu den Schicksalen der drei Frauen umzuschalten. Andererseits wird dadurch umso deutlicher, dass ihre Schicksale keine Besonderheiten sind, genau so täglich überall passieren. Und was wissen wir, als diejenigen mit einem Pass, von den Schwierigkeiten der illegalisiert lebenden Menschen? Auch wenn einige Schicksale hart am Klischee vorbeischrammen und mir deshalb nicht ganz zusagten, lohnt sich das Buch für zwischendurch. Es ist klar, dass es Mankell um eine generelle Kritik an der europäischen Flüchtlingspolitik geht, da spielt es keine Rolle, dass alle Flüchtlinge ihre Texte in lupenreiner, poetischer Sprache vortragen. Tea-Bags emotionales Abschlussplädoyer, dass eine gelungene Kritik an der ‚Festung Europa‘ darstellt, ist sehr zu empfehlen und hilft über einige wirre Passagen hinweg.
Und weil es gerade so gut thematisch passt, hier noch die entsprechende musikalische Untermalung.
Henning Mankell: Tea-Bag. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. dtv (2005). 384 Seiten. ISBN-10: 3423133260. ISNB-13: 978-3423133265.