[Rezension] Margaret Atwood – Oryx und Crake

oryx_und_crake-9783833301391_lKlappentext: Oryx und Crake entwirft eine dystopische Welt in einer möglicherweise nicht allzu fernen Zukunft: eine Welt der Umweltkatastrophen und des Klimawandels, der Sturmfluten und Epidemien, in der sich die wenigen Reichen in streng gesicherten Wohnkomplexen von den verarmten Massen abschotten. Doch inmitten dieser sterbenden, chaotischen Gesellschaft entwickelt sich eine zarte Liebesgeschichte zwischen der rätselhaften Oryx und dem Genforscher Crake, dessen Experimente jedoch zunehmend außer Kontrolle geraten …

Worum geht es?

Schon die Einleitung des Romans spricht Bände. Zitiert wird aus Swifts Gullivers Reisen und zwar der Satz, mit dem Gulliver sein Tagebuch begründet. Er hätte zwar außerordentliche Berichte verfassen können, doch darum sei es ihm nicht gegangen, stattdessen wolle er in „einfachstem Stil“ seiner vornehmsten Absicht nachkommen: nicht zu unterhalten, sondern zu unterrichten. Und darum geht es hier sicherlich auch. Aus der Retrospektive wird der Untergang der Menschheit anhand des Protagonisten Jimmy entwickelt, der sich mittlerweile allerdings nur noch Schneemensch nennt. Schneemensch lebt in einer Welt, in der es keine Zivilisation mehr gibt. Die Menschheit ist ausgelöscht, lange Zeit vermutet er der letzte seiner Art zu sein. Sein Überlebenskampf ist einsam und verlassen, er muss mutierte Wesen (Hunölfe, eine Kreuzung aus Hund und Wolf) abwehren, genauso wie die wildernden „Organschweine“, ist ständig auf der Suche nach Nahrungsmitteln und hat nur Kontakt zu merkwürdigen Wesen, die „Craker“ heißen. Die Craker, einfache, simple Wesen, die nicht zu Gewalt neigen, aber auch zu keiner hohen intellektuellen Leistung fähig sind, behandeln Jimmy aka Schneemensch als Auserwählten. Er soll ihnen, prophetengleich, Nachrichten von Crake, ihrem Schöpfer bringen und von Oryx, seiner Geliebten. Doch beide sind tot und Schneemensch weiß nicht mehr, wie er in einer menschenleeren Welt überleben soll, zudem flüstert ihm immer wieder die Stimme von Oryx Satzfetzen ins Ohr. Schneemensch beginnt den Verstand zu verlieren, da er sich selbst für diese apokalyptische Situation verantwortlich sieht …

In der Retrospektive erfährt der Leser, wie Jimmy Crake kennen lernte. Erst war Crake der Neue in der Klasse, dann wurden sie Freunde und hielten auch während der Unizeit Kontakt. Jimmy hatte sich für die Kunstakademie „Martha Graham“ entschieden, ein trostloser Bau, in dem alles Mögliche unterrichtet wird. Jimmy, als Wortmensch, belegt das Fach „Problematiken“. Und viele dieser angehenden veganen Künsterler_innen hatten selbst einen Haufen davon angesammelt. Auch Jimmy ist nicht der einfachste Mensch. Seitdem seine Mutter verschwand als er ein Kind war, ist er emotional instabil. Seine Mutter, die selbst Wissenschaftlerin war und ihren Ehemann verließ, da sie seine Projekte im hermetisch abgeriegelten Örtchen für die Reichen verantwortungslos fand, ist Jimmys Achillesferse. Crake hingegen ist längst erfolgreich im System. Er kontrolliert ultrageheime Riesenprojekte und lässt sich auch dazu herab, seinen alten Freund Jimmy einmal zu sich einzuladen und ihm einen Job zu verschaffen. Er präsentiert ihm die „Craker“ und Oryx, die sich um die Wesen kümmert. Oryx, die Frau, die Crake liebt, die aber auch von Jimmy geliebt wird und die den beiden als erstes vor Jahren als Jugendliche begegnete …

Das sage ich…

Der Roman entfaltet eine unglaubliche Sogkraft und ich hoffe, dass ich durch meine Beschreibung nicht zu viel verraten habe. Nur soviel: der Klappentext ist für mich keinesfalls stimmig, ich hatte ganz andere Erwartungen an den Text und bin entsprechend überrascht worden. Der Roman ist sehr dicht geschrieben und anfänglich hatte ich nur Fragezeichen im Kopf. Doch nach und nach beginnen sich die Leerstellen zu füllen und allmählich entfalten sich die Verbindungen der Protagonist_innen untereinander, so dass Crake wahnwitziges Projekt in seiner Absurdität und seinem Schrecken immer deutlicher wird. Besonders gefallen hat mir, dass für fast alle anfänglichen Unklarheiten im Verlauf von Schneemenschs Suche Erklärungen gegeben werden und viele dystopische Entwicklungen gar nicht so weit hergeholt erscheinen. Die Arroganz der Naturwissenschaftler gegenüber den Geistes-oder Literaturwissenschaftlern, den Wortmenschen, ist dabei nur ein Phänomen, das ich auch aus meinem persönlichen Umfeld kenne, das Crake allerdings auf die Spitze treibt.

So meint Crake, dass man sich einen Haufen Liebesqualen ersparen können, wenn „die Sache“ (also Liebe, Sex etc.) hormonell zyklisch und unvermeidbar angelegt wäre wie im Tierreich: es gäbe keinen unfairen Wettbewerb mehr und alle wären zufrieden. Jimmy entgegnet ihm, dass die Menschen dann „Hormonroboter“wären und dass die Unvereinbarkeit der Menschen miteinander immer ein Motor für den künstlerischen Ausdruck gewesen sei. Crake meint hingegen, Kunst sei für den Künstler immer nur „ein Mittel, Sex zu kriegen“ und nichts anderes. Auf Jimmys Einwand, dass diese Analogie für Künstlerinnen nicht greife, entgegnet Crake lediglich: „Künstlerinnen sind biologisch verwirrt.“ Das spricht für sich, Crake ist alles andere als sympathisch, sondern tatsächlich ein machtbesessener Egozentriker, dessen analytisches Genie die Menschheit zerstören wird. Einen krasseren Abgesang auf Crakes fehlerhaftes Urteil kann es nicht geben.

Margaret Atwood, von der ich bisher nur „A Handmaid’s Tale“ kenne, da ich den Roman im Englischunterricht lesen musste, hat mit „Oryx und Crake“ eine spannende und unheimliche Dystopie geschrieben, in der Oryx, die wichtigste Frau des Geschehens, als ewige Projektionsfläche der Männerfantasien herhalten muss und nicht nur deshalb an Wedekinds „Lulu“ erinnert.

                                                                                                                  Sehr lesenswert!

Margret Atwood: Oryx und Crake. Übersetzt von Barbara Lüdemann. Berlin – Verlag. 380 Seiten.

ISBN: 978-3-8333-0963-2

4 Kommentare

  1. Pega Mund sagt:

    aaah, liebe eva, das freut mich, dass du hier oryx and crake besprichst/empfiehlst: ist eines meiner „lebensbücher“ … naja, überhaupt atwood … aber so viele andere auch … 😉
    liebe grüße aus bayern: pega

    1. Hallo Pega, das ist ja toll. Danke für deinen Besuch :)

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